Das Bundessozialgericht hat in einem aktuellen Urteil die Voraussetzungen für eine Entschädigung wegen unangemessen langer Verfahrensdauer konkretisiert. Dabei bestätigte das oberste Sozialgericht, dass auch Kläger mit zahlreichen anhängigen Verfahren einen Anspruch auf Entschädigung haben können.
Hintergrund und verlauf des verfahrens vor dem sozialgericht darmstadt
Im Jahr 2014 reichten zwei Klägerinnen vor dem Sozialgericht Darmstadt Klagen auf Hartz-IV-Leistungen ein, die heute als Bürgergeld bezeichnet werden. Das Verfahren zog sich über fast vier Jahre hin und endete erst 2018 mit einem Urteil des Gerichts. Die Berufung wurde anschließend vom Landessozialgericht erst im April 2021 entschieden. Die Klägerinnen forderten daraufhin eine Entschädigung von mindestens 2 400 Euro wegen der überlangen Verfahrensdauer.
Das Landessozialgericht lehnte den Anspruch jedoch ab. Es stellte fest, dass das Verfahren zwar mit einer Dauer von etwa 29 Monaten unangemessen lang gewesen sei, dies aber nur geringe finanzielle Auswirkungen für die Klägerinnen gehabt habe. Der Streitwert betrug lediglich 308 Euro, was nach Ansicht des Gerichts den Umfang der Verzögerung relativiere.
Darüber hinaus führte das Landessozialgericht an, dass sich die Prozessbevollmächtigte nach Erhebung einer Verzögerungsrüge erst zweieinhalb Jahre später wieder gemeldet habe. Zudem hätten sowohl die Prozessbevollmächtigte als auch die Klägerinnen durch ihre Vielzahl an Klagen – mehr als 45 Fälle – eine erhebliche Belastung für die Gerichte verursacht und damit zur Komplexität der Verfahren beigetragen.
Diese Argumentation führte dazu, dass das Landessozialgericht den Entschädigungsanspruch ablehnte und keine Zahlung zusprach.
Entscheidung des bundessozialgerichts zu vielfachen klagen und entschädigungsansprüchen
Mit seinem Urteil vom 26. Oktober 2023 widersprach das Bundessozialgericht dieser Einschätzung deutlich. Das Gericht stellte klar, dass auch bei einer Vielzahl von Klagen eines einzelnen Bürgers ein Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer nicht ausgeschlossen ist.
Die Bürgergeldbezieherin hatte neben weiteren Fällen insgesamt mehr als 45 Klagen eingereicht; ihr Prozessbevollmächtigter führte währenddessen sogar rund 667 weitere Verfahren für andere Mandanten beim selben Gericht durch. Das BSG betonte jedoch ausdrücklich: „Es ist ihr nicht zuzurechnen“, wenn ihr Anwalt parallel zahlreiche andere Fälle bearbeitet habe.
Bedeutung des streitwerts und der existenziellen wichtigkeit der leistung
Weiterhin hob das Gericht hervor, dass es „nicht auf die Höhe des Streitwerts ankommt“. Trotz eines vergleichsweise geringen finanziellen Streitwerts von nur etwa 308 Euro seien Bürgergeldleistungen für Betroffene oft existenziell wichtig – gerade weil sie meist nur ein geringes Einkommen besitzen oder gar kein anderes Vermögen haben.
Damit setzte das BSG einen wichtigen Akzent: Die Bedeutung der Leistung für den Einzelnen steht im Vordergrund und darf nicht allein anhand monetärer Werte bewertet werden.
Fehlende feststellungen zur berufungsverfahren-dauer und notwendige ermittlungen
In seiner Begründung kritisierte das Bundessozialgericht zudem unzureichende Feststellungen seitens des Entschädigungsgerichts bezüglich der Dauer sowie des Ablaufs des Berufungsverfahrens vor dem Landessozialgericht Darmstadt. Es mahnte an, umfassende Ermittlungen vorzunehmen, um genau zu erfassen, wie lange welche Verfahrensabschnitte verzögert wurden und welche Gründe dafür verantwortlich sind.
Nur so könne ein gerechter Ausgleich geschaffen werden zwischen berechtigten Interessen der Klägerinnen an zügigen Entscheidungen sowie möglichen Einflüssen durch komplexe oder schwierige Rechtsfragen im Ausgangsverfahren selbst.
Das BSG unterstrich damit erneut seine Rolle als Kontrollinstanz zur Wahrung fairer Prozessbedingungen in sozialrechtlichen Streitigkeiten mit längeren Laufzeiten vor Gericht.
Bedeutung der klagehäufung für entschädigungsansprüche aus sicht des bsg
Besonders bemerkenswert ist laut Bundessozialgericht seine Entscheidung hinsichtlich möglicher Benachteiligungen aufgrund zahlreicher anhängiger Klageverfahren desselben Bürgers am gleichen Gerichtsort: Eine Häufung von Fällen führe zwar zu erhöhter Komplexität sowie erschwerter Prozessführung; daraus dürften aber keine Nachteile gegenüber dem einzelnen Kläger entstehen oder sein Recht auf angemessene Entschädigung einschränken lassen.
Die Vielzahl eingereichter Klagen wirke sich allenfalls darauf aus, wie schwierig oder umfangreich ein Ausgangsverfahren einzuschätzen sei – dies betreffe aber ausschließlich prozessuale Kriterien innerhalb dieses konkreten Falles selbst ohne pauschale Abwertung anderer Ansprüche aufgrund paralleler Prozesse anderer Mandate desselben Anwalts oder derselben Person insgesamt.
Somit stellt diese Rechtsprechung sicher, dass Vielkläger nicht automatisch schlechter gestellt werden, weil sie häufiger gerichtliche Hilfe suchen. Dies entspricht grundrechtlichen Prinzipien zum Zugang zum Rechtsschutz unabhängig von Anzahl ihrer Anliegen.
Ausnahmen im urteil sowie besondere fallkonstellationen
Eine Ausnahme bildet laut Entscheidung allerdings eine spezielle Konstellation: Für den Sohn einer der beiden Klägerinnen wurde kein Anspruch auf Entschädigung anerkannt. Begründet wird dies damit, dass er zum Zeitpunkt seiner Geburt noch nicht vom Gegenstand des streitigen Verfahrens betroffen war.
Diese Einschränkung verdeutlicht, dass individuelle Umstände sorgfältig geprüft werden müssen, um festzustellen, wer tatsächlich berechtigt ist. Pauschale Ansprüche gelten somit nicht automatisch auch zugunsten aller Angehörigen.
Insgesamt zeigt dieses Urteil wichtige Klarstellungen hinsichtlich Rechte Betroffener bei langen Sozialgerichtsverfahren. Es stärkt insbesondere Personen mit mehreren laufenden Prozessen gegen Behörden darin, angemessen entschädigt zu werden – unabhängig davon wie viele Fälle sie führen.