Das menschliche Immunsystem erkennt nicht nur reale Krankheitserreger, sondern reagiert auch auf visuelle Reize, die potenzielle Infektionsgefahren signalisieren. Eine Studie der Universität Genf zeigt, dass krank aussehende Avatare in Virtual-Reality-Umgebungen eine Immunreaktion auslösen können.
Immunsystem und seine reaktionsfähigkeit auf virtuelle krankheitsanzeichen
Das menschliche Immunsystem verfügt über ein ausgeprägtes Gedächtnis: Nach einer Erstinfektion erkennt es den Erreger bei erneutem Kontakt schneller und bekämpft ihn effizienter. Diese Fähigkeit ist grundlegend für die Immunabwehr und schützt vor wiederholten Erkrankungen. Die aktuelle Forschung erweitert dieses Verständnis um einen weiteren Aspekt: Das Immunsystem kann offenbar auch präventiv reagieren – allein durch den Anblick von künstlichen Gesichtern, die Krankheitsmerkmale zeigen.
In der Studie des internationalen Forscherteams unter Leitung von Camilla Jandus an der Universität Genf wurden knapp 250 Probandinnen und Probanden mit Virtual-Reality-Brillen konfrontiert. Dabei sahen sie sich bewegende Avatare mit menschenähnlichen Gesichtern an, deren Aussehen variiert wurde. Einige Avatare wirkten offensichtlich krank und ansteckend, andere zeigten neutrale Gesichtsausdrücke oder einen ängstlichen Ausdruck ohne infektiöse Merkmale.
Die Forscher nutzten Elektroenzephalografie sowie Magnetresonanztomografie , um die Gehirnaktivität während des Experiments zu messen. Parallel dazu wurden Blutproben entnommen, um immunologische Veränderungen zu erfassen.
Gehirnaktivität und immunologische veränderungen durch kranke avatars
Die Ergebnisse zeigten deutliche Veränderungen in der Gehirnaktivität der Teilnehmenden abhängig vom Gesichtsausdruck der Avatare. Besonders auffällig war eine verstärkte Aktivierung des Hypothalamus – jener Hirnregion, die maßgeblich an der Steuerung von Immunreaktionen beteiligt ist –, wenn sich ein Avatar mit einem krankheitsassoziierten Erscheinungsbild näherte.
Neben neuronalen Reaktionen konnten im Blut spezifische Veränderungen festgestellt werden: Die sogenannte Familie angeborener Lymphozyten wurde aktiviert. Diese Zellen gehören zum angeborenen Immunsystem und spielen eine wichtige Rolle bei frühen Abwehrmechanismen gegen Infektionen noch bevor spezifische Erreger erkannt werden können.
Camilla Jandus erläuterte im Interview: „Wir sahen eine Aktivierung der Familie der angeborenen Lymphozyten.“ Diese frühe Alarmbereitschaft ermöglicht dem Körper laut den Forschenden eine schnellere Vorbereitung auf mögliche Bedrohungen durch Krankheitserreger.
Evolutionäre bedeutung frühzeitiger immunreaktionen auf potenzielle gefahren
Die Fähigkeit des Immunsystems zur frühzeitigen Reaktion auf potenzielle Gefahren hat sich vermutlich im Verlauf der Evolution entwickelt. Bereits das Erkennen eines möglichen Infektionsrisikos reicht aus, um erste Abwehrmechanismen zu aktivieren – noch bevor tatsächlich ein Erreger eindringt oder Schaden verursacht wird.
Laut Jandus handelt es sich dabei zwar nicht um eine vollständige Immunantwort wie bei einer echten Infektion; dennoch spart diese Voraktivierung Energie beim Aufbau einer später notwendigen Abwehrreaktion: „Wenn es nötig ist, braucht es dann weniger Energie, um diese Reaktion aufzubauen.“
Ob statische Bilder ähnliche Effekte hervorrufen können wie dynamische VR-Darstellungen bleibt unklar; dies müsse noch untersucht werden. Ebenso offen ist derzeit die Frage, ob das menschliche Immunsystem im Alltag bereits beim Anblick realer kranker Gesichter vergleichbar reagiert – was für weitere Forschungsarbeiten Anlass bietet.
Bestätigung früherer studien zur aktivierung des immunsystems durch virtuelle reize
Bereits zuvor hatten Studien gezeigt, dass virtuelle Darstellungen von Krankheitssymptomen das menschliche Immunsystem beeinflussen können. So dokumentierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Hamburg 2024 in einer Untersuchung Effekte virtueller Nies-Szenarien auf Immunparameter bei Versuchspersonen.
Dabei führte das Beobachten niesender Figuren in virtuellen Umgebungen zur Freisetzung von sekretorischem Immunglobulin A im Speichel – einem wichtigen Bestandteil lokaler Schleimhautabwehr gegen Atemwegsinfektionen. Dieses Ergebnis unterstreicht ebenfalls die Sensibilität biologischer Systeme gegenüber visuellen Hinweisen potentieller Gesundheitsrisiken selbst ohne direkten Kontakt zu Krankheitserregern.
Zusammenfassend verdeutlicht diese Forschung neue Dimensionen immunologischer Wahrnehmung jenseits klassischer Pathogenkontakt-Erfahrungen sowie deren neurobiologische Grundlagen mithilfe moderner bildgebender Verfahren wie EEG und MRT in Kombination mit molekularbiologischen Analysen des Blutes.