Das Landessozialgericht Hessen hat mit Urteil L 6 AS 444/22 klargestellt, dass Leistungsempfänger nach dem SGB II während einer nicht genehmigten Ortsabwesenheit von bis zu sechs Monaten im Ausland, konkret in Bosnien-Herzegowina, vom Leistungsbezug ausgeschlossen sind. Die Entscheidung betrifft insbesondere Personen in Elternzeit und wirft Fragen zur Auslegung der Erreichbarkeitsanordnung und des Selbsthilfegebots auf.
Rechtliche grundlagen zum leistungsanspruch bei längerer ortsabwesenheit im ausland
Das Urteil des Landessozialgerichts Hessen basiert auf § 7 Abs. 4a SGB II in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung sowie den Vorgaben der Erreichbarkeitsanordnung . Danach ist es eine Ordnungsvorschrift zur Missbrauchskontrolle, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte sich grundsätzlich im zeit- und ortsnahen Bereich ihres Jobcenters aufhalten müssen. Dies gilt auch für Personen, die sich gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II aktuell nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen müssen – etwa wegen Elternzeit oder Betreuungspflichten.
Der sechste Senat des LSG betonte ausdrücklich, dass keine Verpflichtung bestehe, ein Leben „auf Reisen“ über einen Zeitraum von sechs Monaten durch steuerfinanzierte Leistungen zu finanzieren – auch nicht unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz . Ein längerer Aufenthalt im fernen Ausland ohne Zustimmung des Grundsicherungsträgers führt daher zum Ausschluss vom Leistungsbezug.
Die Erreichbarkeitsanordnung verbietet grundsätzlich die Genehmigung einer Ortsabwesenheit über sechs Wochen hinaus außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches eines Jobcenters; dies wurde bereits durch das LSG Berlin-Brandenburg bestätigt , das für dreimonatige Abwesenheiten ähnliche Maßstäbe anlegte.
Diese Regelungen dienen dazu, den unmittelbaren Kontakt zwischen Leistungsträgern und -empfängern sicherzustellen sowie eine Prüfung der aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse zu ermöglichen – was bei längerem Auslandsaufenthalt erheblich erschwert wird.
Widersprüchliche urteile: sozialgericht darmstadt versus landessozialgericht hessen
Im Gegensatz zum Landessozialgericht hatte das Sozialgericht Darmstadt entschieden, dass ein Leistungsausschluss nach §7 Abs.4a SGB II für eine Mutter in Elternzeit nicht greife und somit kein Anspruchsausschluss vorliege.
Das SG Darmstadt argumentierte mit dem Zweck der Vorschrift: Die Verpflichtung zur Anwesenheit im zeit- und ortsnahen Bereich solle hilfebedürftige Personen aktivieren und ihre Eingliederung fördern . Der Ausschluss müsse deshalb einschränkend ausgelegt werden; er gelte nur für jene Erwerbsfähigen, die tatsächlich dem Selbsthilfegebot unterlägen.
Leistungsberechtigte wie Alleinerziehende in Elternzeit seien zwar erwerbsfähig, könnten aber aufgrund ihrer Situation keiner Arbeit nachgehen . Daher sei §7 Abs4a hier nicht anzuwenden – so auch frühere Urteile wie SG Karlsruhe vom 14. März 2011 .
Diese Auffassung stützt sich darauf, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unzumutbar sein kann etwa wegen Kindesbetreuung oder Elternzeit; somit entfalle die Pflicht zur ständigen Erreichbarkeit beim Jobcenter während eines mehrmonatigen Auslandsaufenthaltes.
Verfassungsrechtliche bewertung durch das lsg hessen
Das Landessozialgericht Hessen folgte dieser Argumentation jedoch nicht: Es sah keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art2Abs1 GG durch den Ausschluss von Leistungen bei langer Ortsabwesenheit ohne Genehmigung.
Der Senat führte aus: Würde man diese Bestimmung generell für alle aktuell nicht vermittelbaren Erwerbsfähigen außer Kraft setzen wollen, könnten Betroffene sich über lange Zeiträume fernab ihres zuständigen Leistungsträgers aufhalten – solange sie formal ihren gewöhnlichen Aufenthalt beibehalten etwa durch Mietwohnungserhalt –, was den unmittelbaren Kontakt erheblich erschwere oder unmöglich mache.
Dies führe dazu, dass Prüfungen wirtschaftlicher Verhältnisse kaum noch möglich seien; zudem könne keine Amtshilfe zwischen verschiedenen Trägern erfolgen wenn Betroffene sich dauerhaft im Ausland befänden wie hier Bosnien-Herzegowina.
Damit bestätigte das Gericht seine Auffassung aus früheren Entscheidungen zur Begrenzung langer Aufenthalte außerhalb Deutschlands ohne Zustimmung als legitime Voraussetzung für Leistungsgewährung nach dem Bürgergeldsystem .
Expertenmeinungen und weiterführende rechtslage beim bürgergeld
Sozialrechtsexperten sehen diese Rechtslage differenziert: Einige folgen eher der Linie anderer Gerichte wie dem LSG Berlin-Brandenburg , wonach einem Hilfebedürftigen mit Kind unter drei Jahren aufgrund unzumutbarer Arbeitspflicht kein Ausschluss droht selbst bei mehrmonatigem Auslandsaufenthalt während Elternzeit .
Demnach fehlt es an einem Rechtfertigungsgrund dafür den Anforderungen der Erreichbarkeitsanordnung zu genügen bzw.die Ortsabwesenheit abzulehnen wenn Kinderbetreuung Vorrang hat. Dies wird ausdrücklich auch vom SG Karlsruhe bestätigt .
Mit Einführung des Bürgergeldes gilt nunmehr §7bSGBII statt §7Abs4a. Somit bleibt abzuwarten, inwieweit künftige Entscheidungen diese Rechtsfragen neu bewerten oder präzisieren werden. Die aktuelle Rechtsprechung zeigt jedoch deutlich, dass lange Aufenthalte außerhalb Deutschlands ohne Zustimmung weiterhin problematisch bleiben können, v.a. wenn keine zwingenden Gründe vorliegen wie eben Elternzeit mit Kleinkindern. Ein sorgfältiger Bescheidprüfungsprozess empfiehlt sich daher stets individuell.