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Landessozialgericht baden-württemberg verschärft maßstab für em-rente bei psychischen erkrankungen

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Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 18. März 2025 den Anspruch auf Erwerbsminderungsrente bei psychischen Leiden neu definiert. Die Entscheidung betrifft die Anforderungen an den Nachweis der Einschränkung der Arbeitsfähigkeit und erweitert die Prüfung auf alle Lebensbereiche.

Grundlagen des urteils und fallbeschreibung

Am 18. März 2025 entschied das Landessozialgericht Baden-Württemberg im Verfahren L 13 R 276/22 über die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung bei psychischen Erkrankungen. Das Gericht stellte klar, dass künftig nicht mehr allein eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit ausreicht, sondern die psychische Erkrankung das gesamte private, soziale und alltägliche Leben „übernommen“ haben muss, um rentenrechtlich relevant zu sein.

Der zugrunde liegende Fall betraf einen Mann Jahrgang 1966, der seit dem Jahr 2001 arbeitslos ist und mehrfach eine EM-Rente beantragte. Trotz ärztlicher Gutachten zu Panik- und Angststörungen sowie Persönlichkeitsauffälligkeiten lehnten sowohl die Rentenversicherung als auch Sozial- und Berufungsgerichte einen Anspruch ab. Das LSG stützte seine Entscheidung maßgeblich auf ein Sachverständigengutachten, das unter anderem einen „sekundären Krankheitsgewinn“ durch familiäre Fürsorge sowie fehlende Medikamentenspiegel feststellte.

Mit dieser Urteilsbegründung verknüpft das Gericht erstmals den arbeitsrechtlichen Leistungsbegriff des § 43 SGB VI mit einer umfassenden sozial- und persönlichkeitsbezogenen Bewertung aller Lebensbereiche des Betroffenen – ein Schritt von erheblicher Tragweite in der Rechtsprechung zur EM-Rente bei psychischen Leiden.

Neue prüfgröße: gesamte lebensführung als maßstab

Die zentrale Neuerung liegt in der Einführung des Begriffs „gesamte Lebensführung“ als Kriterium für eine Leistungsminderung infolge einer psychischen Erkrankung. Das LSG formulierte wörtlich: Eine quantitative Leistungsminderung liege erst dann vor, „wenn die psychische Störung die gesamte Lebensführung übernommen hat“. Damit wird nicht nur geprüft, ob Betroffene unter üblichen Bedingungen mindestens drei oder sechs Stunden täglich arbeiten können – wie es § 43 SGB VI vorsieht –, sondern auch bewertet, wie stark sie in ihrem privaten Umfeld eingeschränkt sind.

Das erweiterte prüfkriterium

Diese Ausweitung führt dazu, dass neben beruflicher Leistungsfähigkeit nun auch soziale Kontakte, familiäre Beziehungen sowie alltägliche Aktivitäten Teil der Begutachtung werden müssen. Die Richter verlangen damit einen Nachweis darüber, dass sich Einschränkungen nicht nur am Arbeitsplatz zeigen, sondern sich tiefgreifend auf alle Bereiche des Lebens auswirken.

Dieser Ansatz steht im Widerspruch zum Wortlaut von § 43 SGB VI: Dort wird ausschließlich auf die Fähigkeit zur Arbeit unter allgemeinen Marktbedingungen abgestellt; Freizeitgestaltung oder soziale Teilhabe spielen keine Rolle im Gesetzestext. Mit seiner Entscheidung schreibt das LSG faktisch geltendes Recht fort ohne gesetzgeberische Änderung – was juristische Kritik hervorruft.

Bedeutung für rentenanträge bei psychischer erkrankung

Psychische Erkrankungen sind seit Jahren Hauptursache für neu bewilligte EM-Renten in Deutschland; ihr Anteil liegt stabil über 40 Prozent aller Fälle seit dem Jahr 2011. Ende Dezember 2024 bezogen rund 1 260 000 Menschen Grundsicherung wegen Alter oder Erwerbsminderung bundesweit.

Vor diesem Hintergrund könnte eine restriktivere Auslegung wie durch das LSG Hunderttausende Betroffene betreffen beziehungsweise deren Zugang zur Rente erschweren. Bereits heute lehnt die Deutsche Rentenversicherung etwa jede zweite Erstantragsstellung ab; mit dem neuen Maßstab könnten Ablehnungsquoten insbesondere bei Diagnosen aus dem Bereich seelischer Gesundheit weiter steigen.

Betroffene müssten künftig ihre Funktions- und Teilhabeeinschränkungen im Alltag umfassend dokumentieren sowie gegebenenfalls Gegengutachten beibringen – was Aufwand erhöht und Hürden schafft. Dies könnte zu längeren Verfahren führen sowie Unsicherheiten hinsichtlich Ansprüchen verstärken.

Reaktionen aus fachwelt und perspektiven

Arbeits- und Sozialrechtlerinnen wie Henri Hofene sowie Sozialrechtsexperten wie Dr. Utz Anhalt kritisieren das Urteil scharf: Sie sprechen von einer „Ungleichbehandlung psychisch Erkrankter“ durch unzulässige Erweiterung richterlicher Kompetenzen außerhalb gesetzlicher Vorgaben. Anhalt betont: „Die Beweislast wird auf eine kaum erfüllbare Ebene verlagert.“ Betroffene müssten intime Details ihres Privatlebens offenlegen statt sich allein an objektivierbaren medizinischen Kriterien orientieren zu können.

Sollten andere Landessozialgerichte diesen Maßstab übernehmen oder bestätigen, droht eine systematische Verschärfung in Begutachtungsverfahren bundesweit mit Auswirkungen auf viele Antragstellerinnen und Antragsteller gleichermaßen.

Ob diese Rechtslage Bestand hat oder vom Bundessozialgericht überprüft wird hängt von möglichen Nichtzulassungsbeschwerden ab; Fachkreise halten es jedoch für wahrscheinlich dass dort zumindest geprüft wird ob diese Praxis noch mit dem Wortlaut des Sozialgesetzbuches vereinbar ist.

Unabhängig davon wächst politischer Druck darauf den Schutz von Menschen mit seelischer Krankheit klarer gesetzlich zu regeln um Diskrepanzen zwischen Rechtsprechungspraxis und Gesetzeszweck vorzubeugen – bis dahin bleibt dieses Urteil richtungsweisend aber kontrovers diskutiert innerhalb sozialrechtlicher Kreise in Deutschland.

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