Die rot-grüne Koalition in Hamburg plant die Einführung einer Bezahlkarte, über die künftig alle Leistungen nach SGB II und SGB XII ausgezahlt werden sollen. Dieses Vorhaben stößt auf erheblichen Widerstand von Sozialverbänden, Oppositionsparteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die vor finanzieller Entmündigung sowie digitaler Überwachung warnen.
Geplante bezahlkarte ersetzt bargeldleistungen bei sozialleistungen in hamburg
Der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg arbeitet laut internen Dokumenten an einem sogenannten „Vorprojekt Bezahlkarte“, das noch vor Jahresende 2024 starten soll. Ziel ist es, sämtliche Bargeldleistungen im Rahmen des Bürgergeldes nach SGB II sowie der Sozialhilfe nach SGB XII vollständig durch eine elektronische Karte zu ersetzen. Die geplante Bezahlkarte funktioniert ähnlich wie eine Prepaid-Debitkarte: Der Regelsatz wird nicht mehr als Bargeld oder Überweisung auf ein eigenes Konto ausgezahlt, sondern monatlich direkt auf diese Karte geladen.
Die Stadtverwaltung übernimmt dabei eine Vorauswahl zulässiger Händler, bei denen mit der Karte bezahlt werden darf. Dies soll Missbrauch verhindern und den Verwaltungsaufwand reduzieren. Mit diesem Modell würde Hamburg bundesweit eine Vorreiterrolle einnehmen – vergleichbar mit der bereits seit Februar 2024 eingesetzten „SocialCard“ für Geflüchtete in der Hansestadt.
Das Konzept sieht vor, dass alle Transaktionen ausschließlich elektronisch erfolgen. Das bedeutet auch: Kein Bargeld mehr für Leistungsbeziehende im Rahmen dieser Sozialleistungen. Die Umstellung betrifft zehntausende Menschen in Hamburg, darunter Familien mit Kindern, Rentnerinnen und Rentner sowie Alleinerziehende.
Widerstand gegen digitale bezahlkarte – kritik an überwachung und teilhabeeinschränkung
Das Pilotprojekt trifft auf massiven Widerstand verschiedener gesellschaftlicher Akteure. Die Hamburger Linksfraktion bezeichnet die Maßnahme als „digitale Leine“, während die Gesellschaft für Freiheitsrechte darin ein flächendeckendes Kontrollinstrument sieht. Kritiker warnen davor, dass durch das System finanzielle Entmündigung droht: Leistungsbeziehende verlieren ihre Möglichkeit zur freien Verfügung über ihr Geld.
Ein zentraler Kritikpunkt ist die Einschränkung alltäglicher Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Viele Einkäufe des täglichen Bedarfs erfolgen weiterhin bar – vom Bäcker bis zum Flohmarkt oder Kleinanzeigenkäufen etwa gebrauchter Kinderschuhe sind Barzahlungen üblich oder sogar notwendig. Ohne Bargeldoption könnten Betroffene Schwierigkeiten haben:
- Bus- oder U-Bahn-Tickets am Automaten zu kaufen ohne zusätzliche Apps
- Trinkgelder anonym zu geben
- Spontane Ausgaben flexibel zu tätigen
Diese Einschränkungen führen dazu, dass Teilhabe entweder zusätzlichen Aufwand erfordert oder ganz scheitert – insbesondere Familien mit Kindern spüren dies bei Klassenausflügen oder Vereinsbeiträgen deutlich.
Darüber hinaus sehen Kritiker erhebliche Risiken bezüglich Datenschutz und Stigmatisierung: Jede Zahlung wird nachvollziehbar dokumentiert; daraus entstehen gläserne Konsumprofile von Menschen in prekären Lebenslagen. Während andere Bürger frei über ihr Geld verfügen können, sollen Bedürftige vorgeschriebene Zahlungswege nutzen – was viele als Ungleichbehandlung empfinden.
Sozialsenatorin Melanie Leonhard verweist zwar auf Effizienzsteigerung sowie Missbrauchsprävention durch das neue System; belastbare Zahlen zum tatsächlichen Betrugsvolumen legte der Senat bislang jedoch nicht vor.
Socialcard als vorbild zeigt praktische probleme bei bargeldloser leistungsauszahlung
Seit Februar 2024 setzt Hamburg bereits eine sogenannte SocialCard für Geflüchtete ein – ebenfalls ein bargeldloses Zahlungssystem zur Auszahlung von Sozialleistungen innerhalb von Flüchtlingsunterkünften. Erfahrungen aus diesem Pilotprojekt zeigen konkrete Probleme im Alltag betroffener Personen:
Lange Wege zur nächsten akzeptierten Verkaufsstelle erschweren den Einkauf notwendiger Güter ebenso wie spontane Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer finanzierbar sind. Diese Herausforderungen würden sich durch die Ausweitung des Systems auf alle Bürgergeld- beziehungsweise Sozialhilfeempfänger deutlich verschärfen; betroffen wären nun weitaus mehr Menschen verschiedenster Altersgruppen und Lebenssituationen.
Die SocialCard dient somit als Blaupause für das geplante Modell beim Bürgergeld in Hamburg – sie verdeutlicht aber auch mögliche negative Folgen einer vollständigen Bargeldausschaltung im sozialen Sicherungssystem.
Grundrechtliche bedenken wegen bargeldausschluss bei sozialleistungen
Juristische Experten weisen darauf hin, dass Artikel 1 des Grundgesetzes jedem Menschen Würde garantiert; diese werde beeinträchtigt durch den Wegfall der Möglichkeit zur Nutzung von Bargeldoptionen beim Bezug staatlicher Leistungen wie dem Bürgergeld oder der Sozialhilfe nach SGB XII beziehungsweise SGB II.
Die Gesellschaft für Freiheitsrechte bewertet das Projekt zudem als Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip: Hilfen müssten unterstützend gestaltet sein statt bevormundend einzuschränken bzw., so wörtlich: „nicht hilfreich“, sondern bevormundend. Ein Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass dieses Kartensystem rechtlich angreifbar sei und möglicherweise vor Gericht keinen Bestand habe.
Kritiker sehen darin einen tiefgreifenden Eingriff in informationelle Selbstbestimmung sowie einen Kontrollmechanismus gegenüber ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen innerhalb des Sozialsystems Deutschlands insgesamt.
Politische reaktionen spiegeln kontroverse debatte um soziale gerechtigkeit wider
Politisch reagiert insbesondere die Linke-Fraktion scharf auf den Plan des Senats: Sie fordert einen sofortigen Stopp des Projekts sowie eine breite öffentliche Debatte darüber unter Beteiligung aller relevanten Akteure aus Zivilgesellschaft und Politikern verschiedener Parteienvertreter*innen gleichermaßen.
Die CDU kritisiert das Vorhaben als symbolische Klientelpolitik ohne belastbare Nachweise zum Nutzen dieser Maßnahme.
SPD– sowie Grünen-Fraktionen verteidigen hingegen den Ansatz als zeitgemäßes Instrument moderner Verwaltungstechnik zur Effizienzsteigerung im Sozialsystem.
Details etwa zu möglichen Ausnahmen vom bargeldlosen Verfahren bleiben bislang vage formuliert.
Mehrere Wohlfahrtsverbände kündigten juristische Unterstützung an betroffenen Leistungsbeziehenden an falls Senat seine Pläne ohne Anpassungen umsetzt.
Diese politischen Reaktionen spiegeln widergehende gesellschaftliche Spannungen zwischen Modernisierungsvorstellungen einerseits sowie Schutzbedürfnissen vulnerabler Gruppen andererseits wider.
Bundesweite signalwirkung hamburgs pilotprojekt könnte dominoeffekt auslösen
Mit seinem Pilotprojekt könnte Hamburg bundesweit Impulse setzen: Andere Bundesländer wie Baden-Württemberg oder Bayern prüfen ähnliche Modelle zunächst speziell für Geflüchtete.
Kritiker warnen jedoch eindringlich davor, dass sich daraus ein Dominoeffekt entwickeln könnte:
Was ursprünglich nur Asylbewerber*innen betraf, könnte bald Standardverfahren im gesamten deutschen Sozialsystem werden.
Damit steht nicht allein technische Innovation sondern vielmehr grundlegendes Selbstverständnis sozialstaatlicher Fürsorge zur Debatte:
Wie viel Kontrolle verträgt Teilhabe? Wie viel Freiheit bleibt Bedürftigen?
Diese Fragen prägen derzeit intensive Diskussionen weit über Hamburg hinaus.
Fazit offenheit bleibt entscheidend für vertrauensvolle teilhabe am sozialen system
Das Projekt verkauft Kontrolle unter dem Deckmantel moderner Technik – doch es verändert Machtverhältnisse zwischen Verwaltung einerseits sowie hilfebedürftigen Personen andererseits zugunsten ersterer drastisch.
Wer staatliche Leistungen bezieht, soll nicht zugleich digital rationiert werden müssen – dies gilt besonders angesichts bestehender sozialer Ungleichheiten.
Ob sich Hamburgs Senat letztendlich entscheidet, dieses Modell umzusetzen, wird wegweisend sein:
Es geht darum, wieviel Vertrauen Staat seinen Leistungsempfängern entgegenbringt
und ob Teilhabe weiterhin Vertrauenssache bleibt
oder künftig abhängig wird von Softwareeinstellungen eines digitalen Systems.
Hamburg steht damit exemplarisch an einem Scheideweg sozialpolitischer Gestaltung – ganz Deutschland beobachtet aufmerksam diesen Prozess ohne Abstriche hinsichtlich seiner Tragweite.