Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass das Jobcenter Fahrtkosten für den Besuch einer volljährigen, schwerbehinderten Tochter im betreuten Wohnen als Härtefallmehrbedarf übernehmen muss. Die Entscheidung betont die besondere familiäre Verantwortung und die atypische Bedarfslage der Mutter.
Rechtliche grundlagen zur übernahme von fahrtkosten bei kontaktpflege mit behinderten angehörigen
Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 28.11.2018 klargestellt, dass nicht nur einmalige oder anders nicht gedeckte Aufwendungen zum Besuch naher Angehöriger in besonderen Fällen einen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II begründen können. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kontaktpflege eine existenzielle Bedeutung für die Betroffenen hat und auf anderem Wege nicht angemessen sichergestellt werden kann.
Im vorliegenden Fall ging es um eine Mutter, deren volljährige Tochter schwerbehindert ist und in betreutem Wohnen lebt. Die monatlichen Fahrten zu ihrer Tochter stellen keine gewöhnlichen Verwandtenbesuche dar, sondern sind durch die besondere familiäre Nähe sowie die gesundheitlichen Einschränkungen der Tochter geprägt. Das Gericht erkannte darin eine atypische Bedarfslage an, welche das Jobcenter verpflichtet, Fahrtkosten als Mehrbedarf zu übernehmen.
Grundsätzlich sind Aufwendungen zur Kontaktpflege unter Angehörigen aus dem Regelbedarf nach § 20 SGB II zu bestreiten; Ausnahmen bestehen jedoch bei regelmäßig wiederkehrenden Kosten in besonderen Situationen wie hier beschrieben. Dabei berücksichtigt das Gericht auch den Schutz von Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen gemäß Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz , welcher ein hohes Gewicht bei der Bewertung solcher Fälle besitzt.
Das Urteil macht deutlich, dass Kommunikationswege wie Telefon oder Internet häufig nicht ausreichen können, um den persönlichen Beistand sicherzustellen – gerade bei Menschen mit Behinderung ist der direkte Kontakt oft unverzichtbar.
Praktische bedeutung des urteils für anspruchsberechtigte und jobcenter
Das Urteil des BSG schafft Klarheit darüber, wann Fahrtkosten zum Besuch eines behinderten nahen Angehörigen als Härtefallmehrbedarf anerkannt werden müssen – nämlich immer dann, wenn eine außergewöhnliche familiäre Bindung besteht und andere Formen der Unterstützung unzureichend sind.
Für Betroffene bedeutet dies konkret: Wenn sie regelmäßig ihre schwerbehinderte erwachsene Tochter besuchen müssen und dadurch Kosten entstehen, kann ein entsprechender Antrag beim Jobcenter gestellt werden mit Aussicht auf Erfolg hinsichtlich Übernahme dieser Ausgaben über den Regelbedarf hinaus.
Aus Sicht des Jobcenters stellt diese Rechtsprechung eine Verpflichtung dar: Es darf solche Anträge nicht pauschal ablehnen oder nur im Rahmen des Regelsatzes berücksichtigen; vielmehr ist individuell zu prüfen, ob ein besonderer Mehrbedarf vorliegt – insbesondere wenn monatlich mindestens etwa 20 Euro an Fahrtkosten entstehen.
Pflege zwischenmenschlicher beziehungen im sozialrechtlichen kontext
Die Entscheidung hebt hervor: Die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen innerhalb von Familien ist Teil des Existenzminimums im Sinne sozialrechtlicher Vorschriften – gerade wenn gesundheitliche Einschränkungen bestehen oder persönliche Betreuung notwendig wird.
Damit trägt das Urteil dazu bei, soziale Teilhabe auch unter erschwerten Bedingungen sicherzustellen und unterstützt damit sowohl pflegende Angehörige als auch behinderte Menschen selbst nachhaltig in ihrem Alltag sowie ihrer Lebensqualität.
Weiterführende aspekte zur sozialrechtlichen bewertung atypischer bedarfe
Neben dem konkreten Fall zeigt das Urteil wichtige Grundprinzipien für Sozialleistungsbezieher auf: Nicht jeder Aufwand zur Kontaktpflege fällt automatisch unter den Regelbedarf; vielmehr kommt es auf individuelle Umstände an wie Dauerhaftigkeit der Kosten sowie deren Notwendigkeit aufgrund persönlicher Schicksale oder gesundheitlicher Besonderheiten nahe stehender Personen.
Dabei spielt auch Art. 6 Abs. 1 GG eine zentrale Rolle: Der Schutz von Ehe-, Familien- und Eltern-Kind-Verhältnissen wirkt sich unmittelbar auf sozialrechtliche Ansprüche aus – insbesondere dann, wenn diese Beziehungen durch Krankheit oder Behinderung beeinträchtigt sind.
Die Rechtsprechung erkennt somit anerkannte soziale Bedürfnisse jenseits standardisierter Leistungskataloge an; dies fördert differenzierte Einzelfallentscheidungen statt starrer Pauschalen im Sozialhilferecht beziehungsweise Bürgergeldsystem seit Einführung ab Januar 2023 .
Darüber hinaus verweist das Gericht darauf hin, dass bereits geringe monatliche Beträge ab ca. 20 Euro erheblich vom Durchschnitt abweichen können . Solche Abweichungen rechtfertigen einen Mehrbedarfsanspruch unabhängig davon, ob es sich um Hygieneartikel oder eben Fahrten handelt – sofern sie dauerhaft notwendig bleiben.
Insgesamt stärkt dieses Urteil somit Rechte pflegender Angehöriger gegenüber Behördenansprüchen deutlich zugunsten einer menschenwürdigen Existenzsicherung trotz finanzieller Engpässe infolge besonderer Belastungen durch Krankheit bzw. Behinderung nahestehender Personen.