Eine internationale Studie mit Daten von über 4 000 Erwachsenen aus 34 Bevölkerungsgruppen zeigt, dass Ernährung einen deutlich größeren Einfluss auf die Entstehung von Adipositas hat als Bewegungsmangel. Die Forschenden vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein und der Universität Kiel analysierten Stoffwechsel, Körperfettanteil und Aktivitätsenergie verschiedener Lebensstile weltweit.
Vergleich unterschiedlicher lebensstile und energieverbrauch bei adipositas
Die Studie untersuchte den Gesamtenergieverbrauch, Grundumsatz sowie körperliche Aktivität bei Menschen aus Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften, landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften und Industrienationen. Dabei wurden Daten von mehr als 4 000 Personen im Alter zwischen 18 und 60 Jahren aus insgesamt 34 Bevölkerungsgruppen auf sechs Kontinenten ausgewertet. Ziel war es herauszufinden, wie stark Ernährung beziehungsweise Bewegung zur Entwicklung von Übergewicht beitragen.
Ein überraschendes Ergebnis zeigte sich beim Vergleich des Stoffwechsels zwischen den Hadza in Ostafrika – einem Jäger-und-Sammler-Volk – und Menschen in den USA. Trotz der sehr unterschiedlichen Lebensweisen war die Aktivitätsenergie beider Gruppen ähnlich hoch. Dies deutet darauf hin, dass der Körper seinen Gesamtenergieverbrauch über einen Zeitraum von 24 Stunden relativ stabil hält.
Tim Hollstein vom UKSH erklärt: „Wenn wir uns mehr bewegen, spart der Körper an anderer Stelle Energie ein – etwa beim Grundumsatz für Atmung oder Organtätigkeit.“ Das bedeutet konkret: Mehr Bewegung führt kurzfristig zu einem höheren Kalorienverbrauch; langfristig gleicht sich dieser Effekt jedoch häufig durch eine Reduktion des Energiebedarfs an anderer Stelle wieder aus. Wer weniger aktiv ist, kann demgegenüber mehr Kalorien für lebenswichtige Funktionen verwenden.
Diese Erkenntnisse stellen das klassische Energiebilanz-Modell infrage, das besagt: „Wer mehr isst als er verbrennt, nimmt zu.“ Die Realität scheint komplexer zu sein; unterschiedliche Stoffwechseltypen reagieren verschieden auf Ernährung und Bewegung.
Ernährung versus bewegung: bedeutung für gewichtsmanagement bei adipositas
Die Analyse ergab zudem einen klaren Unterschied im Einflussfaktor Ernährung gegenüber körperlicher Aktivität auf die Entstehung von Übergewicht. Nach Berechnungen tragen Ernährungsgewohnheiten etwa zehnmal stärker zum Anstieg des Körperfetts bei als Bewegungsmangel. Für Tim Hollstein ist dies keine neue Erkenntnis: „Wir wissen schon lange, dass Bewegung allein kaum hilft.“
Frühere Studien bestätigen diese Aussage ebenfalls. So zeigte eine Untersuchung unter Leitung von Anja Bosy-Westphal an der Universität Kiel mit Probanden in einer Stoffwechselkammer interessante Ergebnisse zur Nahrungsaufnahme in Abhängigkeit vom Bewegungsverhalten: Personen mit hoher körperlicher Aktivität aßen intuitiv genau so viel wie sie verbrauchten; weniger aktive Teilnehmer hingegen konsumierten deutlich mehr Kalorien als benötigt.
Dies legt nahe, dass Bewegungsmangel die Fähigkeit beeinträchtigen könnte, Hunger- sowie Sättigungssignale korrekt wahrzunehmen – was wiederum Überernährung begünstigt. Sport spielt somit zwar eine wichtige Rolle beim Gewichtsmanagement; entscheidend bleibt jedoch vor allem die Kontrolle der Nahrungsaufnahme.
Darüber hinaus weist die Studie darauf hin, dass nicht nur Menge sondern auch Zusammensetzung der Nahrung relevant ist für Adipositasentwicklung. Ein hoher Anteil verarbeiteter Lebensmittel korreliert positiv mit dem Körperfettanteil in verschiedenen Ländern weltweit.
Zusammenhang zwischen kohlenhydraten, insulinwirkung und fettstoffwechsel
Ein weiterer Fokus lag auf dem Einfluss eines hohen Kohlenhydratanteils in der Ernährung auf Fettaufbau im Körper. Kohlenhydrate benötigen zur Verstoffwechslung das Hormon Insulin; dieses fördert allerdings auch den Aufbau von Fettgewebe während es gleichzeitig dessen Abbau hemmt.
Bereits Solomon Berson und Rosalyn Yalow wiesen 1965 darauf hin: „Wir können Insulin als wichtigste Stellschraube des Fettstoffwechsels betrachten.“ Diese Aussage stellt das klassische Energiebilanz-Modell infrage bzw. ergänzt es um hormonelle Aspekte des Metabolismus.
Tim Hollstein fasst zusammen: „Beide Modelle haben ihre Berechtigung.“ Er selbst favorisiert weiterhin das Konzept einer Kalorienbilanz, betont zugleich aber Probleme durch hohe Zucker- beziehungsweise Kohlenhydratzufuhr insbesondere aus verarbeiteten Lebensmitteln:
„Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen.“
Angesichts dieser komplexen Zusammenhänge fordert er eine Anpassung bestehender Therapieansätze gegen Adipositas:
„Wir konnten zeigen, dass verschiedene Stoffwechseltypen existieren – deshalb ist es nicht zielführend allen Betroffenen dieselbe Behandlung vorzuschreiben.“
Diese differenzierte Sichtweise könnte künftig helfen, Behandlungsstrategien individueller auszurichten sowie nachhaltigere Erfolge im Kampf gegen Übergewicht zu erzielen.