Der Zentralrat der Juden in Deutschland repräsentiert heute die drittgrößte jüdische Gemeinschaft Europas. Seit seiner Gründung 1950 hat sich die Organisation von einem Auswanderungsbüro zu einer vielfältigen Interessenvertretung entwickelt, die das jüdische Leben im Land maßgeblich prägt.
Gründung und anfangsjahre des zentralrats der juden
Am 19. Juli 1950 gründeten 25 Repräsentanten jüdischer Gemeinden aus West- und Ostdeutschland in Frankfurt am Main den Zentralrat der Juden. Fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Völkermord an sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden schien eine solche Institution kaum vorstellbar. Deutschland war als Täterland mit Verfolgung, Enteignung und Mord untrennbar verbunden.
Die jüdischen Gemeinden galten zunächst als sogenannte „Liquidationsgemeinden“. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Mitglieder bei der Auswanderung zu beraten. Der deutsch-jüdische Historiker Julius Schoeps beschreibt diese Anfangsphase so: „Niemand hat in den Anfängen nach 1945 gedacht, dass es je wieder ein jüdisches Leben in Deutschland geben würde.“ Der Zentralrat verfolgte daher eine Politik der Abwicklung unter Annahme, dass es künftig keine jüdischen Gemeinden mehr geben werde.
Entgegen dieser Erwartung blieben etwa 25 000 Jüdinnen und Juden im Land. Bereits im Gründungsjahr entstand ein Grundsatzstreit über die Zukunftsperspektive: Die zionistische Organisation Jewish Agency empfahl eine Auswanderung nach Israel, während etwa Heinz Galinsky, damaliger Vorsitzender der Berliner Gemeinde, betonte, dass dies eine selbstbestimmte Entscheidung sein müsse – eine strategisch wichtige Weichenstellung für das Fortbestehen des Judentums in Deutschland.
Trotz dieser innergemeinschaftlichen Debatten blieb die Haltung gegenüber dem Verbleib von Jüdinnen und Juden im Land ablehnend – insbesondere international wurde gefragt: „Wie kann man im Land der Täter leben?“ Erst ab den 1970er Jahren wurde offen anerkannt, dass es auch weiterhin jüdisches Leben in Deutschland geben soll. Diese Akzeptanz setzte sich langsam auch bei internationalen Organisationen durch.
Antisemitismus und herausforderungen für das gemeindeleben
Von Beginn an waren die jüdischen Gemeinden antisemitischen Angriffen ausgesetzt. Friedhofsschändungen oder Hakenkreuzschmierereien gehörten zum Alltag ebenso wie gezielte Angriffe auf Synagogen – so beispielsweise die Schändung der Kölner Synagoge an Weihnachten 1959 durch Unbekannte. Das gesellschaftliche Klima war geprägt von vielen Alt-Nazis, die unbehelligt politisch aktiv blieben; dies erschwerte das Leben für viele Jüdinnen und Juden erheblich.
Auch heute sind antisemitische Vorfälle kein Relikt vergangener Zeiten: Im Jahr 2024 dokumentierte der Bundesverband Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus insgesamt 8 627 Vorfälle – ein Anstieg um fast 77 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Darunter befinden sich sowohl rechtsextreme Übergriffe als auch politischer Antisemitismus mit antiisraelischem Hintergrund; allein diesem werden rund 5 857 Fälle zugerechnet.
Der Zentralrat steht seinen Mitgliedern weiterhin zur Seite gegen verbreiteten Hass sowie Diskriminierung. Er vertritt ihre Interessen bei Entschädigungsfragen für erlittenes Unrecht während der Shoa sowie bei Restitutionsansprüchen auf geraubtes Eigentum.
In den achtziger Jahren kämpften viele Gemeinden mit Überalterung ihrer Mitgliederstruktur; kleinere Orte zählten oft nur wenige Dutzend Personen neben größeren Zentren wie Düsseldorf oder Frankfurt am Main mit mehreren Tausend Mitgliedern insgesamt knapp unterhalb von dreißigtausend Menschen bundesweit lebten damals hierzulande noch immer zahlreiche ältere Gemeindeglieder vor allem aus Westdeutschland sowie Berlin-West.
Demografische herausforderung und gemeindestruktur
Die demografische Entwicklung stellte die Gemeinden vor weitere strukturelle Herausforderungen. Besonders in kleineren Orten fehlte Nachwuchs, während die Mitgliederzahl in Metropolregionen stabil blieb oder moderat wuchs. Die altersbedingt schrumpfende Basis beeinflusste soziale und kulturelle Angebote der Gemeinden.
Zuwanderung aus osteuropa stärkt vielfalt des deutschen judentums
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ab Anfang der neunziger Jahre kam es zu einer großen Zuwanderungswelle von mehr als hunderttausend sogenannten Kontingentflüchtlingen aus Russland sowie anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach Deutschland. Diese Migration bewahrte viele bestehende Gemeinden vor ihrem Niedergang oder ließ neue entstehen – insbesondere ostdeutsche Städte wurden wieder Teil des Verantwortungsbereichs vom Zentralrat wie vor Errichtung deutscher Teilstaatlichkeit durch Mauerbau zuvor üblich gewesen war.
Anfangs begegneten alteingesessene westdeutsche Gemeinden den Neuankömmlingen skeptisch aufgrund unterschiedlicher kultureller Prägungen sowie verschiedener religiöser Zugänge zum Judentum innerhalb dieser Gruppen; Integration stellte somit eine zentrale Herausforderung dar für Verband wie lokale Gemeinschaft gleichermaßen.
Diese Zuwanderungen führten zudem zu einer stärkeren Vielfalt innerhalb des deutschen Judentums hinsichtlich religiöser Strömungen: Unter anderem entwickelte sich neben orthodoxem Glaubensverständnis konservatives ebenso wie liberales Judentum weiter beziehungsweise neu – letztere Tradition hatte bereits im neunzehnten Jahrhundert Wurzeln gehabt aber infolge Shoa stark gelitten beziehungsweise war marginalisiert worden; orthodoxe Skepsis gegenüber liberalem Ansatz hielt lange Zeit auch innerhalb Dachverbands an laut Historiker Michael Wolffsohn.
Heute sind unter dem Dach vom Zentralrat rund einhundertfünf Einheitsgemeinden organisiert mit unterschiedlichen Denominationen zwischen orthodox bis liberal vertreten. Präsident Josef Schuster sieht seine Aufgabe darin, verbindend tätig zu sein: „Spaltungen halte ich nicht für zielführend.“
Als sichtbares Zeichen zunehmender Diversität gilt zudem Gründung der Jüdischen Akademie Frankfurt am Main, welche interkulturellen Austausch fördert. Dort stehen verschiedene Bildungszugänge nebeneinander, darunter religiöse Erziehung ebenso wie säkulare oder religionsferne Ansätze. Sozialwissenschaftler Doron Kiesel betont: „In einem aufgeklärten Judentum haben alle diese Tradition ihren begründeten Platz.“