Das Bundesverfassungsgericht hat die bisherige Pflichtversicherungsregel von 90 Prozent für Rentner aufgehoben. Seitdem können freiwillig gesetzlich Versicherte unter bestimmten Voraussetzungen in die günstigere Krankenversicherung der Rentner wechseln.
Verfassungswidrigkeit der 90-prozent-klausel und ihre folgen
Im Jahr 1992 wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eine Regelung eingeführt, die verlangte, dass Rentner in mindestens 90 Prozent der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens pflichtversichert sein mussten, um Anspruch auf die Krankenversicherung der Rentner zu erhalten. Diese Vorschrift war im § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V verankert und führte dazu, dass Personen, die während dieser Zeit freiwillig oder familienversichert waren, keinen Zugang zur KVdR erhielten und somit den vollen Beitrag ohne Zuschuss zahlen mussten.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte diese Regelung als verfassungswidrig. Die Richter aus Karlsruhe begründeten dies damit, dass durch diese Klausel der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt werde und schutzwürdiges Vertrauen zerstört werde. Insbesondere benachteilige sie diejenigen Versicherten ungerechtfertigt, welche nicht pflichtversichert waren – obwohl sie über lange Zeiträume Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung gewesen seien.
Die Entscheidung des Gerichts hatte weitreichende Konsequenzen: Sie öffnete den Weg für eine Neubewertung des Zugangs zur KVdR und führte letztlich zu einem Optionsrecht für betroffene Rentnerinnen und Rentner. Damit wurde ein wichtiger Schritt unternommen, um mehr Gerechtigkeit im System der gesetzlichen Krankenversicherung sicherzustellen.
Stichtagbegrenzung bis ende 1993 sowie rechtslage bis zum optionsrecht
Die vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Unvereinbarkeit bezog sich ausschließlich auf Anträge zur KVdR ab dem Stichtag 1. Januar 1994. Für Anträge vor diesem Datum galten bereits Übergangsregelungen zugunsten der Antragstellerinnen und Antragsteller; diese konnten weiterhin von günstigeren Beiträgen profitieren.
Diese zeitliche Begrenzung ist von großer Bedeutung: Ein falsch gewähltes Antragsdatum konnte über Jahrzehnte hinweg zu deutlich höheren Beiträgen führen – was viele Betroffene vor erhebliche finanzielle Herausforderungen stellte.
Nach dem Urteil blieb zunächst ein Rechtsvakuum bestehen: Der Gesetzgeber reagierte nicht sofort auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. In dieser Phase fiel die Rechtslage automatisch zurück auf das Gesundheits-Reformgesetz von 1988 . Dieses sah eine großzügigere Regelung vor: Es genügte generell eine Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenversicherung unabhängig davon, ob es sich um Pflicht-, freiwillige oder Familienversicherung handelte.
Erst am 23. März 2002 trat mit dem Zehnten SGB-V-Änderungsgesetz ein neues Optionsrecht in Kraft . Dieses ermöglichte es Rentnern, welche aufgrund der früheren Hürde nur freiwillig versichert waren, innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten zwischen ihrer bisherigen Versicherungssituation und einer Pflichtmitgliedschaft in der KVdR zu wählen.
Wer sich bewusst gegen einen Wechsel entschied blieb weiterhin freiwillig versichert, behielt aber unter bestimmten Bedingungen später noch einmal die Möglichkeit eines Wechsels zur Pflichtmitgliedschaft – was zusätzliche Flexibilität schuf.
Heutiger stand mit allen gkv-mitgliedschaftsarten sowie finanzielle auswirkungen
Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz aus dem Jahr 2004 wurden letzte Unklarheiten beseitigt: Seitdem zählen alle Arten gesetzlicher Krankenversicherungen vollständig zur sogenannten Neuntel-Zehntel-Quote , welche Voraussetzung für den Wechsel in die KVdR ist:
- Pflichtversicherung
- Freiwillige Versicherung
- Familienversicherung
Diese Erweiterung bedeutet auch längere Phasen etwa während Kindererziehung oder Selbstständigkeit stellen keine Hindernisse mehr dar – solange insgesamt ausreichend Zeiten einer Mitgliedschaft nachgewiesen werden können.
Der finanzielle Vorteil durch einen Wechsel in die KVdR ist erheblich: Freiwillig Versicherte zahlen derzeit rund 15,9 % Beiträge auf sämtliche Alterseinkünfte ohne Arbeitgeberzuschuss oder Zuschüsse aus der Rentenversicherung; bei einer Pflichtmitgliedschaft sinkt dieser Satz auf gut 8 %, wobei er nur noch gesetzliche Altersrenten umfasst.
Ein Beispiel verdeutlicht dies anschaulich: Bei einer monatlichen Altersrente von 1 400 € spart ein Versicherter durch den Wechsel etwa 1 100 € an Beiträgen pro Jahr – eine deutliche Entlastung gerade bei niedrigen Einkommen im Ruhestand.
Neben individuellen Vorteilen wirkt sich diese Entwicklung auch positiv auf das Gesamtsystem aus: Durch den verstärkten Übergang vieler ehemals freiwilliger Mitglieder in die Pflichtversorgung steigt zwar kurzfristig der Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung . Langfristig rechnet sich dies jedoch ökonomisch durch geringere Beitragsschulden sowie weniger Mahnverfahren; zudem stärkt es das Vertrauen ins Solidarsystem und senkt Verwaltungskosten nachhaltig.