Der Anspruch auf ein Erwachsenendreirad als Hilfsmittel zur sozialen Teilhabe wurde vor dem Sozialgericht Lüneburg verhandelt. Dabei ging es um die Frage, ob eine schwerbehinderte Frau mit Angststörungen und Panikattacken einen Rechtsanspruch auf diese Leistung hat, um ihre selbstbestimmte Lebensführung zu fördern.
Rechtliche grundlagen und fallbeschreibung
Die Grundlage des Verfahrens bildet Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention , der die unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft für Menschen mit Behinderungen garantiert. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte am 30. Januar 2020 , dass diese Konvention als Auslegungshilfe im nationalen Recht heranzuziehen ist. Im konkreten Fall klagte eine schwerbehinderte Antragstellerin aus Lüneburg, die an Übergewicht leidet, Angststörungen sowie Panikattacken hat und einen Rollator nutzt. Sie beantragte ein Erwachsenendreirad als Hilfsmittel im Rahmen der Eingliederungshilfe.
Das Sozialgericht Lüneburg entschied am 10. Juni 2025 , dass das Dreirad nicht nur Mobilität ermöglicht, sondern auch das Ziel der sozialen Teilhabe unterstützt. Die Klägerin gehört mit einem anerkannten Grad der Behinderung von 50 zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 113 Abs. 1 Satz 2 SGB IX. Die Behörde ist verpflichtet, sie durch Leistungen zur sozialen Teilhabe zu einer möglichst selbstbestimmten Lebensführung im Sozialraum zu befähigen oder dabei zu unterstützen.
Hilfsmittel wie das beantragte Dreirad sind integraler Bestandteil dieser Leistungen und dienen dazu, Barrieren abzubauen sowie soziale Kontakte außerhalb des Wohnumfelds zu ermöglichen.
Funktionalität des erwachsenendreirads für soziale teilhabe
Das Gericht stellte fest, dass das Erwachsenendreirad ein geeignetes Hilfsmittel darstellt, um die Klägerin bei ihrer eigenständigen Mobilität außerhalb ihres Wohnraums zu unterstützen. Es ermöglicht ihr den Besuch von Selbsthilfegruppen sowie sozialpsychiatrischen Angeboten wie dem offenen Café der Arbeiterwohlfahrt oder dem Frühstückstreff des sozialpsychiatrischen Dienstes.
Auch private Besuche sind dadurch erleichtert: So kann sie ihren Sohn besuchen, der an Krebs erkrankt ist und im gleichen Ort wohnt – was für ihre psychische Stabilität wichtig ist.
Eine Probefahrt bestätigte zudem ihre Fähigkeit zum sicheren Umgang mit dem Dreirad sowie dessen alleinige Nutzung ohne fremde Hilfe oder Begleitung.
Im Vergleich zu Fahrdiensten oder Taxifahrten bietet das Dreirad den Vorteil einer jederzeit verfügbaren Mobilitätslösung direkt vor ihrer Haustür – besonders relevant bei plötzlichen Angstanfällen oder Panikattacken während eines Aufenthalts außerhalb ihres Zuhauses.
Diese Flexibilität erhöht ihre Unabhängigkeit erheblich und trägt dazu bei, Isolation vorzubeugen beziehungsweise abzubauen.
Notwendigkeit und kostenübernahme durch eingliederungshilfe
Die Kammer begründete auch die Erforderlichkeit der Kostenübernahme für das Erwachsenendreirad durch die Eingliederungshilfe:
Erstens bieten Fahrdienste keine vergleichbare Sicherheit; sie warten üblicherweise nicht unbefristet vor Ort während Veranstaltungen wie Frühstückstreffs oder Cafébesuchen auf die Nutzerin – was insbesondere bei Angsterkrankungen problematisch sein kann.
Zweitens können familiäre Unterstützungssysteme aufgrund unterschiedlicher Tageszeiten kaum dauerhaft flexibel eingesetzt werden: Die Klägerin möchte sowohl vormittags als auch nachmittags mobil sein können; berufstätige Angehörige stehen daher nicht immer zur Verfügung.
Diese Faktoren machen eine eigenständige Mobilitätslösung notwendig – gerade weil soziale Teilhabemöglichkeiten vielfältig genutzt werden sollen ohne Abhängigkeiten von Dritten entstehen zu lassen.
Der Kostenvoranschlag liegt innerhalb angemessener Grenzen; es gibt kein gleichwertiges alternatives Mittel zur Deckung dieses Bedarfs gemäß § 104 Absätze 1–2 SGB IX unter Berücksichtigung individueller Wünsche und Besonderheiten des Einzelfalls aus Sicht des Gerichts.
Bedeutung unabhängiger lebensführung für behinderte menschen
Das Urteil unterstreicht den Grundsatz aus Artikel 19 UN-BRK: Menschen mit Behinderung sollen unabhängig leben können ohne in Rollen von Bittstellern gedrängt zu werden. Dies entspricht auch Vorgaben nationaler Gesetzgebung wie §§ 104 ff., 113 SGB IX über personenzentrierte Eingliederungsleistungen zur Förderung selbstbestimmter Lebensgestaltung im Sozialraum.
Die Entscheidung zeigt exemplarisch auf:
- Wie technische Hilfsmittel über reine Mobilitätsverbesserungen hinaus soziale Integration ermöglichen.
- Dass individuelle Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen.
- Dass Behörden verpflichtet sind, angemessene Lösungen bereitzustellen.
Damit stärkt dieses Urteil Rechte behinderter Menschen auf gesellschaftliche Teilhabe entsprechend internationaler Verpflichtungen sowie bundesdeutscher Rechtsnormen.
Es verdeutlicht außerdem praxisnah Herausforderungen beim Zugang flexibler Unterstützungsangebote jenseits klassischer Pflege- oder Transportleistungen zugunsten nachhaltiger Selbstständigkeit trotz gesundheitlicher Einschränkungen.