Vor vier Jahrzehnten vereinten sich zahlreiche Rock- und Popstars mit Zehntausenden Fans bei den Live-Aid-Konzerten in London und Philadelphia, um auf die Hungersnot in Äthiopien aufmerksam zu machen. Heute spitzt sich die Lage in der Region Tigray erneut dramatisch zu, doch internationale Aufmerksamkeit bleibt aus.
Das live-aid-festival als symbol für weltweite solidarität gegen hunger
Am 13. Juli 1985 fand das von Bob Geldof initiierte Doppelkonzert „Live Aid“ statt, das als Meilenstein humanitärer Hilfe gilt. In den Städten London und Philadelphia traten Dutzende Rock- und Popstars auf, um gemeinsam ein Zeichen gegen die verheerende Hungersnot in Äthiopien zu setzen. Millionen Menschen weltweit verfolgten die Veranstaltung vor dem Fernseher oder unterstützten durch Spendenaktionen. Die Aktion führte dazu, dass erhebliche Hilfsgelder nach Äthiopien flossen und auch andere Krisenregionen Beachtung fanden.
Die Region Tigray, damals besonders schwer von Hunger betroffen, wurde zum Symbol für globale Solidarität. Hunderttausende Menschen starben damals an Unterernährung oder deren Folgen. Das Konzert zeigte eindrucksvoll, wie Musik und Prominenz genutzt werden können, um politische Aufmerksamkeit zu erzeugen und humanitäre Hilfe anzustoßen.
Der Erfolg von Live Aid beruhte nicht nur auf der musikalischen Vielfalt der auftretenden Künstlerinnen und Künstlern, sondern auch auf dem Engagement zahlreicher Freiwilliger sowie Medienpartnern weltweit. Es entstand ein Bewusstsein dafür, dass Hunger kein fernes Problem ist, sondern eine Herausforderung menschlicher Gemeinschaften überall auf der Welt darstellt.
Eskalation des konflikts in Tigray: krieg zerstört lebensgrundlagen
Vier Jahrzehnte später hat sich die Situation im Norden Äthiopiens dramatisch verschlechtert. Zwischen 2020 und 2022 führte der äthiopische Ministerpräsident sowie Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed mit Unterstützung Eritreas einen brutalen Krieg gegen regionale Kräfte im Bundesstaat Tigray. Dieser Konflikt forderte bis zu 600 000 Menschenleben – eine Zahl mit verheerender Tragweite für Bevölkerung sowie Infrastruktur.
Neben den direkten Kriegsschäden leidet Tigray unter einer langanhaltenden Dürreperiode, deren Auswirkungen durch den faktischen Rückzug der US-Entwicklungsbehörde USAID noch verstärkt wurden. Die Kombination aus bewaffnetem Konflikt und Umweltkatastrophe hat zur Zerstörung nahezu aller Lebensgrundlagen geführt: Landwirtschaftliche Flächen sind verwüstet; Wasserversorgungssysteme funktionieren kaum noch; Gesundheitseinrichtungen sind zusammengebrochen; Arbeitsplätze gingen verloren; selbst Bankdienstleistungen sind eingeschränkt oder nicht mehr verfügbar.
Gezielte strategie des aushungerns
Der britische Experte für Hunger- und Konfliktforschung Alex de Waal beschreibt diese Entwicklung als gezielte Strategie des Aushungerns ganzer Bevölkerungsgruppen: „Der Krieg zerstörte beides – soziale Sicherheit wie Frieden – darüber hinaus kam es zur Vernichtung all dessen was zum Überleben notwendig ist.“ Besonders betroffen seien Frauen gewesen: Viele wurden Opfer sexueller Gewalt mit langfristigen physischen sowie psychischen Folgen verbunden mit sozialer Ausgrenzung.
Diese systematische Zerstörung führt dazu, dass viele Einwohnerinnen und Einwohner trotz internationaler Appelle weiterhin unter extremem Hunger leiden müssen – eine Tragödie unsichtbar für weite Teile der Weltöffentlichkeit.
Mangelnde transparenz erschwert einschätzung des hungergeschehens
Die genaue Zahl hungernder Menschen lässt sich derzeit kaum ermitteln, da laut Experten die Zentralregierung in Addis Abeba Datenerhebungen behindert beziehungsweise verhindert. Dies erschwert Hilfsorganisationen wie Mary’s Meals ihre Arbeit erheblich, denn ohne verlässliche Zahlen können keine zielgerichteten Maßnahmen geplant werden.
In einer Dokumentation dieser Organisation äußerte sich Initiator Bob Geldof frustriert über fehlendes öffentliches Interesse an aktuellen Entwicklungen: „Wo würde etwas wie eine weitere Hungersnot in den Nachrichtensendungen auftauchen? Als dritte oder vierte Meldung?“ Seltene Filmaufnahmen aus Tigray zeigen jedoch deutlich das Ausmaß des Leids trotz journalistischer Sperren vor Ort.
Gesprächspartner von Mary’s Meals berichten übereinstimmend davon, dass bereits jetzt Millionen Menschen dringend Lebensmittelhilfe benötigen, während offizielle Stellen aus politischen Gründen keine Hungersnot anerkennen wollen beziehungsweise dürfen.
Diese Informationsblockade trägt dazu bei, dass die internationale Öffentlichkeit wenig über aktuelle Notlagen erfährt, obwohl sie gravierend sind – vergleichbar etwa mit anderen afrikanischen Krisengebieten wie Sudan oder Kongo, wo ähnliche Muster beobachtet werden können.
Appelle an menschlichkeit trotz frustration bleiben bestehen
Trotz aller Widrigkeiten hält Initiator Bob Geldof an seiner Hoffnung fest, dass Menschlichkeit letztlich doch siegt: „Es ist wirklich so einfach. Ein Kind hat Hunger. Gibt ihm zu essen.“ Seine Worte erinnern daran, welche Kraft gemeinsames Handeln entfalten kann, wenn es gelingt, Aufmerksamkeit zurückzugewinnen für vergessene Katastrophen abseits medialer Schlagzeilenflut.
Menschenrechtsorganisationen berichteten kürzlich über besonders grausame Formen sexueller Gewalt gegen Frauen in Tigray, darunter Massenvergewaltigungen gefolgt von absichtlichen Verletzungen zur Unfruchtbarmachung mittels eingeführter Fremdkörper wie rostige Schrauben oder spitze Metallteile – Verbrechen, deren Aufarbeitung bislang kaum stattfindet, weil Zugangsmöglichkeiten stark eingeschränkt bleiben, ebenso wie öffentliche Debatten darüber fehlen.
Die Situation zeigt exemplarisch, welche Herausforderungen humanitäre Akteurinnen vor Ort bewältigen müssen, wenn politische Interessen Informationsfluss blockieren, während gleichzeitig Millionen Leben bedroht sind. Das Schicksal vieler Betroffener bleibt daher weiterhin weitgehend unbeachtet, obwohl dringender Handlungsbedarf besteht.
dpa