Die telefonische Ermittlung eines Pflegegrades ist rechtlich anerkannt und kann nicht ohne konkreten Verdacht auf falsche Angaben durch die Pflegekasse widerrufen werden. Das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern entschied am 19. Januar 2022, dass eine Herabstufung nach einem späteren Hausbesuch nur unter strengen Voraussetzungen zulässig ist.
Telefonische feststellung des pflegegrads während der covid-19-pandemie
Im Mai 2020 wurde bei einem Betroffenen ein Pflegegrad 2 telefonisch festgestellt. Grundlage war ein Interview sowie ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen , das auf Aktenlage basierte. Der Mann erhielt daraufhin monatlich 316 Euro Pflegegeld; ab dem 1. Januar 2025 beträgt dieser Satz offiziell 332 Euro, was für den damaligen Bescheid jedoch keine Rolle spielt.
Während der COVID-19-Pandemie wurden Begutachtungen häufig telefonisch durchgeführt, um Risikogruppen vor Infektionen zu schützen. Zwischen März 2020 und dem 30. Juni 2022 war dieses Verfahren bundesweit zugelassen. Mit dem Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz von 2023 sind strukturierte Telefoninterviews in bestimmten Fällen dauerhaft möglich.
Der Vorteil solcher Telefoninterviews liegt in ihrer Ortsunabhängigkeit und Kosteneffizienz. Allerdings fehlen dabei persönliche Eindrücke und unmittelbare Beobachtungen durch den Gutachter, die bei einer Hausbesichtigung gewonnen werden könnten.
Herabstufung nach hausbesuch durch medizinischen dienst
Im Juli 2021 führte der Medizinische Dienst im Auftrag der Pflegekasse einen Hausbesuch beim Betroffenen durch. Anschließend stufte die Kasse den Pflegegrad von zwei auf eins herab, womit kein Anspruch mehr auf das monatliche Pflegegeld bestand. Die Begründung lautete, dass sich die Pflegesituation vor Ort anders dargestellt habe als beim Telefoninterview.
Der Mann legte Widerspruch gegen diese Entscheidung ein; die Kasse wies diesen zurück mit Verweis auf ihre Einschätzung nach dem Hausbesuch.
Gerichtliche auseinandersetzung um pflegegrad-herabstufung
Daraufhin beantragte der Betroffene einstweiligen Rechtsschutz vor dem Sozialgericht Rostock, welches seinen Antrag zunächst ablehnte – sowohl am 3. September als auch am 19. Oktober 2021 gab es negative Beschlüsse für ihn.
In zweiter Instanz vor dem Landessozialgericht hatte er Erfolg: Die Richter stuften das Vorgehen der Pflegekasse als rechtswidrig ein und hoben die Herabsetzung im Eilverfahren wieder auf.
Das Gericht stellte klar: „Ohne konkreten Verdacht falscher Angaben im Telefoninterview darf eine Änderung des Verwaltungsakts nicht erfolgen“ – eine solche Anfangsverdachtslage wurde weder dargelegt noch belegt.
Rechtliche grundlagen zur bestätigung des urteils
Maßgeblich für diese Entscheidung ist § 48 Absatz 1 SGB X: Danach trägt die Behörde oder hier die Pflegekasse stets die Beweislast dafür , dass sich seit Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts wesentliche Änderungen ergeben haben oder dieser von Anfang an rechtswidrig war.
Da weder Hinweise noch Nachweise für eine Verschlechterung oder fehlerhafte ursprüngliche Einstufung existierten, erklärten die Richter jede Herabsetzung als klar rechtswidrig.
Die Kasse konnte nicht belegen, dass beim Hausbesuch Voraussetzungen für einen höheren oder niedrigeren Grad fehlten beziehungsweise sich seitdem relevante Veränderungen ergaben – entsprechende Anhaltspunkte lagen nicht vor.
Auswirkungen des beschlusses für pflegebedürftige und kassen
Dieses Urteil stärkt den Schutz von Leistungsberechtigten gegenüber willkürlichen Entscheidungen von Versicherungsträgern wie den gesetzlichen Kranken- bzw. Pflegekassen:
- Eine Leistungsbewilligung per Telefon gilt ebenso verbindlich wie jene nach persönlicher Begutachtung – auch wenn persönliche Eindrücke fehlen können.
- Die bloße Neuinterpretation einer unveränderten Pflegesituation reicht nicht aus zur Rücknahme oder Herabstufung eines bereits bewilligten Grades.
- Der Nachweis tatsächlicher Veränderungen obliegt allein der Kasse.
- Im Falle begründeter Zweifel muss sie dies transparent darlegen sowie eine erneute Begutachtung veranlassen.
- Der Medizinische Dienst hat dann anhand festgelegter Methoden erneut zu prüfen und detailliert zu begründen, dass eine Änderung gerechtfertigt ist.
Dies schafft Rechtssicherheit insbesondere in Pandemiezeiten sowie bei strukturierten Fernbegutachtungen mit eingeschränkten persönlichen Kontakten zwischen Gutachterinnen und Versicherten.*