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Sexueller missbrauch in der psychotherapie: wenn der schutzraum zum tatort wird

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In Deutschland erkrankt fast jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens an einer psychischen Störung. Die Nachfrage nach Therapieplätzen übersteigt das Angebot deutlich. Recherchen zeigen, wie einige Psychotherapeuten ihre Machtposition ausnutzen und Patienten sexualisierte Grenzverletzungen erfahren.

Machtgefälle und grenzüberschreitungen in der psychotherapie

Psychotherapeutische Behandlungen gelten als geschützter Raum, in dem Patientinnen und Patienten Vertrauen aufbauen sollen. Doch immer wieder berichten Betroffene von Übergriffen durch Therapeuten, die ihre berufliche Machtposition missbrauchen. So schildert Natalja, eine 30-jährige Inklusionsbegleiterin, wie ihr Therapeut zunächst aufmerksam zuhörte und Fürsorge zeigte. Bald überschritt er jedoch Grenzen: Er schrieb ihr private Nachrichten, machte Komplimente und hinterließ ungefragt DVDs im Briefkasten – schließlich kam es zu einem Kuss.

Ähnlich erging es Annett Hansen , einer Sozialpädagogin aus Düsseldorf. Sie suchte wegen Depressionen Hilfe bei einer bekannten Therapeutin aus dem Fernsehen. Anfangs fühlte sie sich wertgeschätzt; doch auch hier folgten Grenzüberschreitungen: Umarmungen während der Sitzungen, T-Shirts mit dem Duft der Therapeutin sowie Geständnisse von Verliebtheit belasteten das Vertrauensverhältnis erheblich.

Verschiedene arten von grenzverletzungen

Der stellvertretende Vorsitzende des Ethikvereins für Psychotherapie-Ethik, Jürgen Thorwart, unterscheidet verschiedene Arten von Grenzverletzungen: soziale , wirtschaftliche oder narzisstische sowie sexuelle Übergriffe. So berichtete etwa Franka Meier , dass sie ihren Therapeuten zunehmend nur noch privat traf – auch zu Hause –, wo es gegen ihren Willen zum ersten Mal zu sexuellem Kontakt kam. Aus Angst vor Verlust des Behandlers und wegen dessen Unterstützung im Sorgerechtsstreit ließ sie weitere Kontakte geschehen.

Diese Fälle verdeutlichen ein strukturelles Machtgefälle zwischen Therapeutinnen beziehungsweise Therapeuten und Patientinnen oder Patienten – ein Ungleichgewicht, das häufig dazu führt, dass Betroffene sich nicht wehren können oder wollen.

Rechtliche bewertung sexueller handlungen unter therapeutischem verhältnis

Sexuelle Handlungen zwischen Psychotherapeutinnen oder -therapeuten und Patientinnen beziehungsweise Patienten sind nach § 174c Absatz 2 Strafgesetzbuch strafbar – selbst wenn die Betroffenen zustimmen sollten. Der Medizinrechtler Thomas Gutmann von der Universität Münster erklärt: „Dieser Paragraf ist eine Ausnahme im Strafrecht; normalerweise gilt Einvernehmlichkeit bei Erwachsenen als Voraussetzung für Straffreiheit.“ Das Gesetz kriminalisiert ausdrücklich sexuelle Beziehungen innerhalb des Behandlungsverhältnisses aufgrund des bestehenden Machtgefälles.

Gutmann betont die Schwere dieser Regelung angesichts dessen, dass viele Opfer Schwierigkeiten haben würden, sich gegen den Missbrauch zur Wehr zu setzen oder diesen überhaupt anzuerkennen – insbesondere weil oft eine emotionale Abhängigkeit besteht.

Die ehemalige Patientin Franka Meier beschreibt rückblickend den Schutzraum Therapie als trügerisch: „Man geht ja immer vom Guten aus… Man denkt, der Therapeut weiß was er tut.“ Es habe lange gedauert bis zur Anzeige ihres Therapeuten wegen sexuellen Missbrauchs trotz großer persönlicher Belastung.

Gerichtliche verfahren und statistiken zum missbrauch in therapien

Im April 2024 begann am Landgericht Tübingen ein Prozess gegen einen Arzt des Universitätsklinikums Tübingen wegen sexuellen Missbrauchs an mehreren Patientinnen während seiner psychotherapeutischen Tätigkeit. Das Gericht verurteilte ihn in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe aufgrund von 53 bestätigten Fällen sexualisierter Übergriffe; einzelne Anklagen wurden hingegen nicht bestätigt oder befinden sich noch im Berufungsverfahren.

Solche Verfahren sind selten: Laut Statistischem Bundesamt gab es innerhalb von zwei Jahrzehnten lediglich 42 Urteile nach § 174c Absatz 2 StGB bundesweit – inklusive Freisprüchen sowie Verurteilungen –, obwohl Millionen Menschen jährlich therapeutische Hilfe suchen könnten.

Gutmann sieht darin Defizite sowohl gesellschaftlicher Anerkennung als auch juristischer Durchsetzungsmöglichkeiten bei Sexualdelikten innerhalb heilberuflicher Beziehungen begründet: „Wir leben noch immer in einer patriarchalen Gesellschaft mit Vorurteilen gegenüber Frauen.“ Zudem erschwere die Annahme eines vermeintlichen Konsenses oft die Strafverfolgung solcher Fälle zusätzlich erheblich.

Mangelnde statistiklage und hilfsangebote für betroffene patienten

Das tatsächliche Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Psychotherapeuten bleibt unklar; aktuelle Daten fehlen weitgehend vollständig. Die letzten umfassenden Studien stammen aus den frühen 1990er-Jahren mit Schätzungen um etwa 600 Fälle pro Jahr deutschlandweit bei damals rund 15 000 zugelassenen Fachkräften – heute gibt es mehr als viermal so viele Therapeuten ohne vergleichbare Erfassungssysteme seitens Kammern oder Behörden auf Landes- bzw Bundesebene.

Fachleute kritisieren fehlende spezialisierte Hilfsangebote für Betroffene außerhalb einzelner Initiativen wie dem Ethikverein unter Leitung von Jürgen Thorwart mit seinen bundesweit aktiven Beraterteams für Opfer solcher Übergriffe in Heilberufen einschließlich Psychotherapie-Settings.

Betroffene berichten weiterhin über langanhaltende Folgen ihrer Erfahrungen mit grenzüberschreitenden Therapienitzungen bis hin zu Traumatisierungen:

Natalja fand Unterstützung bei der Telefonseelsorge sowie durch eine Anzeige beim zuständigen Ärztekammergremium; inzwischen hat sie einen neuen Therapieplatz gefunden und fühlt sich dort sicherer aufgehoben. Dagegen fällt es anderen wie Franka Meier oder Annett Hansen schwerer neue Vertrauensbeziehungen aufzubauen. Sie leiden laut eigenen Angaben bis heute unter den Folgen vergangener Übergriffe während ihrer Behandlungssitzungen.

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