Das Bundessozialgericht hat in zwei Urteilen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG bei schwerbehinderten Menschen präzisiert. Dabei standen insbesondere die Mobilitätseinschränkungen im öffentlichen Raum und der Grad der Behinderung im Fokus.
Grundlagen und rechtliche voraussetzungen für das merkzeichen aG
Das Merkzeichen aG wird behinderten Menschen zuerkannt, die sich dauerhaft nur mit fremder Hilfe oder unter großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs fortbewegen können. Voraussetzung ist, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt und der Grad der Behinderung mindestens 80 beträgt. Die Beurteilung orientiert sich an den tatsächlichen Bewegungsmöglichkeiten im öffentlichen Verkehrsraum, nicht nur an eingeschränkten Situationen innerhalb geschützter Bereiche.
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts verdeutlicht, dass es auf die Gehfähigkeit in realen Alltagssituationen ankommt. Hindernisse wie Bordsteinkanten, abfallende Wege oder Bodenunebenheiten spielen eine zentrale Rolle bei der Bewertung. Das Merkzeichen soll sicherstellen, dass Betroffene besondere Nachteilsausgleiche erhalten und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbessert wird.
Im ersten Fall lag beim Kläger eine fortschreitende Muskelschwunderkrankung vor, welche Gang- und Standstabilität erheblich beeinträchtigt. Trotz vorhandener Gehfähigkeit auf einem Krankenhausflur wurde festgestellt, dass im öffentlichen Raum aufgrund verschiedener Barrieren eine erhebliche Einschränkung besteht. Das Gericht erkannte somit die erste Voraussetzung für das Merkzeichen als erfüllt an.
Da jedoch Unklarheiten bezüglich des Grades der Behinderung bestanden, wurde dieser Punkt zur weiteren Klärung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Dieses Vorgehen zeigt den differenzierten Prüfungsprozess bei komplexen medizinischen Sachverhalten.
Entscheidung zu mobilitätseinschränkungen in vertrauter umgebung
Im zweiten Verfahren ging es um einen Kläger mit globaler Entwicklungsstörung, dessen freie Gehfähigkeit auf vertraute Situationen beschränkt ist – etwa im schulischen oder häuslichen Bereich –, während er sich in unbekannter Umgebung nicht frei bewegen kann.
Das Bundessozialgericht entschied zugunsten des Klägers und bestätigte ihm das Recht, das Merkzeichen aG zuerkennen. Die Richter betonten: „Der Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasse gerade auch die Teilhabe von behinderten Menschen an allen Facetten des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens.“
Mobilität außerhalb bekannter umgebungen als kriterium
Damit stellte das Gericht klar heraus, dass eingeschränkte Mobilität außerhalb bekannter Umgebungen kein Ausschlusskriterium darstellt. Vielmehr muss berücksichtigt werden, wie stark sich diese Einschränkung tatsächlich auswirkt – hier entsprach sie einem Grad der Behinderung von mindestens 80.
Diese Entscheidung unterstreicht den inklusiven Ansatz des Schwerbehindertenrechts: Es schützt nicht nur vor Benachteiligungen innerhalb gewohnter Räume, sondern fördert auch gleichberechtigte Teilnahme am gesamten gesellschaftlichen Leben trotz erheblicher Mobilitätsdefizite.
Folgen für schwerbehinderte menschen mit gehbehinderungen
Die Urteile haben weitreichende Bedeutung für Menschen mit vergleichbaren gesundheitlichen Einschränkungen sowie deren Anspruch auf Nachteilsausgleiche durch das Merkzeichen aG. Sie bestätigen ein umfassendes Verständnis von Mobilität als Voraussetzung sozialer Teilhabe – über reine Beweglichkeit hinausgehend auch hinsichtlich selbstständiger Orientierung in wechselnden Umgebungen.
Für Betroffene bedeutet dies konkret mehr Rechtssicherheit bei Anträgen zur Anerkennung außergewöhnlicher Gehbehinderungen durch Behörden oder Sozialgerichte sowie verbesserte Chancen auf entsprechende Unterstützungsmöglichkeiten wie Parkausweise oder Erleichterungen beim Zugang zu Verkehrsmitteln.
Darüber hinaus verdeutlicht diese Rechtsprechung den Stellenwert einer individuellen Prüfung aller relevanten Faktoren einschließlich medizinischer Gutachten sowie sozialrechtlicher Kriterien zur Feststellung eines angemessenen Grades der Behinderung gemäß § 69 SGB IX beziehungsweise entsprechender Verordnungen zum Schwerbehindertenausweisgesetz .
Insgesamt stärken diese Entscheidungen den Schutz behinderter Menschen vor Diskriminierung aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität und fördern ihre gleichberechtigte Integration in alle Lebensbereiche – vom Arbeitsplatz bis zum Freizeitangebot –, was dem Grundgedanken eines inklusiven Gemeinwesens entspricht.