Seit einem Jahr steht Keir Starmer an der Spitze der britischen Regierung. Trotz eines überwältigenden Wahlsiegs kämpft seine Regierung mit internen Konflikten, politischen Fehlentscheidungen und einem Mangel an klarer Vision.
Starmers schwieriger start und das scheitern des sozialhilfegesetzes
Vor genau einem Jahr gewann Keir Starmer die Parlamentswahl in Großbritannien mit einer deutlichen Mehrheit für die Labour-Partei. Die Erwartung war groß, dass er nach den chaotischen Jahren unter den konservativen Regierungen Seriosität und Stabilität zurückbringen würde. Doch bereits wenige Monate später zeigte sich, dass seine Regierung vor erheblichen Herausforderungen stand.
Ein zentrales Ereignis war das geplante Gesetzespaket zur Kürzung von Behinderten- und Sozialhilfeleistungen. Dieses Vorhaben sollte Einsparungen von umgerechnet mehr als sechs Milliarden Euro ermöglichen – eine Maßnahme, die angesichts der angespannten Staatsfinanzen als alternativlos dargestellt wurde. Finanzministerin Rachel Reeves unterstützte diesen Kurs trotz erheblicher Widerstände aus den eigenen Reihen.
Das Timing erwies sich jedoch als fatal: Nur wenige Tage nach der Ankündigung brach ein beispielloser Aufstand im Parlament aus. Mehr als 120 Labour-Abgeordnete widersetzten sich dem Gesetzespaket vehement, was dazu führte, dass Starmer am 02.07.2025 fast alle geplanten Maßnahmen zurückziehen musste. Dieses Debakel markierte einen Tiefpunkt seiner Regierungsarbeit und offenbarte die fragile Mehrheit im Unterhaus sowie eine erschütterte Autorität des Premierministers.
Die Niederlage bei dieser Abstimmung ist symptomatisch für Starmers erstes Regierungsjahr: Zahlreiche Fehltritte haben das Vertrauen in seine Führung geschwächt und lassen Zweifel an seiner Fähigkeit aufkommen, langfristige politische Veränderungen durchzusetzen.
Interne konflikte und wechsel im stabschefamt prägen regierungsarbeit
Ein wesentlicher Faktor für die Schwierigkeiten liegt in internen Machtkämpfen innerhalb von Starmers Team begründet. Die Absetzung von Stabschefin Sue Gray, einer erfahrenen Beamtin mit zentraler Rolle in der Downing Street, erfolgte bereits nach wenigen Monaten Amtszeit – sie zog sich überraschend zurück.
An ihre Stelle trat Morgan McSweeney, enger Vertrauter des Premiers sowie Wahlkampfstratege während des erfolgreichen Labour-Wahlkampfs 2024. Mit diesem Wechsel änderte sich auch die Ausrichtung der Regierungsarbeit grundlegend: Statt einer ruhigen Umsetzung politischer Reformen setzte McSweeney auf eine wahlkampfähnliche Strategie voller kurzfristiger Reaktionen auf aktuelle Ereignisse.
Diese hektische Herangehensweise führte zu unkoordinierten Reaktionen auf Kritik aus Medienkreisen vor allem rechter Boulevardzeitungen, welche seit Beginn versucht hatten, Starmers Regierung zu diskreditieren. Der Fokus verlagerte sich zunehmend darauf, Schlagzeilen zu kontern statt langfristige Lösungen zu entwickeln – ein Vorgehen ähnlich dem sogenannten „Short-termism“, das schon früher britische Regierungen belastete.
Innerparteiliche spannungen und öffentliche reaktionen
Die Folge waren nicht nur öffentliche Zerwürfnisse innerhalb der Partei sondern auch eine zunehmende Nervosität bei Starmer selbst; Reden wurden emotionaler und nahmen oft populistische Narrative rechter Politiker wie Nigel Farage auf – was wiederum innerparteiliche Spannungen verstärkte.
Kontroverse rede zur immigration sorgt für parteiinternen konflikt
Im Mai 2025 erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt mit einer Rede Starmers zum Thema Immigration: Er warnte vor „unabsehbaren Schäden“ durch Zuwanderung und sprach davon, Großbritannien könne zur „Insel der Fremden“ werden – ein Begriff mit stark negativer historischer Konnotation insbesondere wegen Assoziationen zum ehemaligen konservativen Politiker Enoch Powell aus den 1960er-Jahren.
Diese Äußerungen lösten heftige Kritik nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb seiner eigenen Partei aus; viele Labour-Abgeordnete sahen darin einen Bruch mit progressiven Grundwerten ihrer Bewegung sowie eine Annäherung an rechtspopulistische Positionen entgegen früherer Versprechen Starmers.
In einem Interview einige Wochen später entschuldigte sich Starmer öffentlich für diese Rede: „Ich war abgelenkt durch außenpolitische Ereignisse“, erklärte er sinngemäß; zudem habe er seinen Text nicht ausreichend geprüft gehabt. Diese Entschuldigung wurde zwar positiv aufgenommen aber gleichzeitig als Zeichen mangelnder Konzentration gewertet – gerade angesichts weiterer politischer Fehler wirkte sie eher schwach denn souverän.
Dieses Ereignis verdeutlicht exemplarisch das grundlegende Problem seines ersten Jahres im Amt: Es fehlt eine klare politische Linie oder Vision jenseits kurzfristiger Krisenbewältigung oder taktischer Manöver gegen rechte Gegnergruppen wie Reform UK unter Nigel Farage.
Fehlende vision erschwert wirtschaftspolitik trotz wachstumsversprechen
Das zentrale Versprechen Starmers bei Amtsantritt lautete daraufhin Wirtschaftswachstum anzukurbeln sowie soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen – doch konkrete Schritte blieben weitgehend aus oder wirkten halbherzig umgesetzt beziehungsweise kommuniziert worden sein müssen sie zumindest so wahrgenommen werden).
Eine mögliche Wiederannäherung an die Zollunion mit der Europäischen Union lehnt Starmer weiterhin strikt ab; obwohl Umfragen zeigen, dass inzwischen über 60 Prozent der Britinnen und Briten den Brexit rückblickend kritisch sehen würden . Diese Haltung wird vielfach damit begründet, Angst vor Angriffen rechter Medien habe ihn dazu veranlasst, vorsichtig agieren zu müssen – doch genau diese Vorsicht führt wiederum dazu, dass keine glaubwürdigen Alternativen präsentiert werden können.
Langfristig wichtige Projekte wie Investitionen ins marode Gesundheitssystem geraten dadurch ins Hintertreffen oder bleiben öffentlich unbeachtet – weil es dem Premierminister bisher nicht gelingt, authentisch darzustellen, wofür seine Politik eigentlich steht.
Dieser Mangel an klarer Kommunikation verstärkt Unsicherheit sowohl innerhalb seiner Partei als auch beim Wählerpublikum – was wiederum Raum schafft für populistische Kräfte rechts außen.
Rechtspopulismus gewinnt boden während mainstream-parteien verlieren
Der Umgang Starmers mit Rechtspopulismus wirkt ambivalent bis kontraproduktiv: Statt klarer Abgrenzung setzt er teils nervöse Anpassungsstrategien um Narrative etwa von Nigel Farage fortzuführen bzw. teilweise sogar aufzunehmen. Dies führt dazu, dass Reform UK derzeit deutlich bessere Umfragewerte erzielt als Labour .
Farages Erfolg zeigt, wie sehr Teile des Wählervolks enttäuscht sind vom etablierten Parteienangebot – insbesondere wenn dieses keine überzeugenden Antworten auf wirtschaftliche Sorgen bietet oder gesellschaftliche Spaltungen adressiert.
Starmer gilt vielen Beobachtern eher als Technokrat denn charismatischer Politiker; ihm fehle es am Gespür dafür, komplexe gesellschaftliche Entwicklungen strategisch einzubinden ohne dabei eigene Grundsätze preiszugeben.
Seine einzige Hoffnung bleibt Zeit bis zur nächsten regulären Wahl voraussichtlich erst im Jahr 2029. Bis dahin muss es ihm gelingen, sein Team neu auszurichten, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen, aber vor allem endlich klar darzulegen, wohin Großbritannien steuern soll.
Nur so kann verhindert werden, dass Rechtspopulisten weiter Zulauf erhalten oder gar selbst Regierungsverantwortung übernehmen.