In deutschen Abwässern werden weiterhin Polioviren nachgewiesen, was auf eine mögliche Übertragung des Virus zwischen Menschen hindeutet. Das Robert Koch-Institut ruft zu erhöhter Wachsamkeit und umfassender Diagnostik auf.
Nachweise von polioviren im abwasser und ihre bedeutung für die öffentliche gesundheit
Seit Ende November 2023 meldet das Robert Koch-Institut wiederholte Nachweise von Polioviren in Proben aus dem Abwasser mehrerer deutscher Städte. Betroffen sind unter anderem München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz. Inzwischen wurden an zehn Teststellen Proben entnommen, wobei an vier Standorten – darunter Dresden, Mainz, München und Stuttgart – weiterhin Polioviren festgestellt wurden. Diese Funde zeigen eindeutig, dass Menschen im Einzugsgebiet der jeweiligen Klärwerke mit dem Virus infiziert sind und es über den Stuhl ausscheiden.
Das RKI betont jedoch, dass bisher keine gesicherten Hinweise auf eine tatsächliche Übertragung des Virus zwischen Menschen innerhalb Deutschlands vorliegen. Es ist unklar, ob die Viren durch lokale Ansteckungen verbreitet werden oder ob sie von Personen eingeschleppt werden, die sich im Ausland infiziert haben und das Virus noch ausscheiden. RKI-Präsident Lars Schaade erklärt dazu: „Beides ist möglich.“ Angesichts der Dauer der Nachweise sowie ihrer Verteilung an verschiedenen Orten hält das Institut eine zumindest lokal begrenzte Übertragung für zunehmend wahrscheinlich.
Die Situation erfordert verstärkte Aufmerksamkeit seitens medizinischer Einrichtungen: Ärzte sowie Labore sollen Verdachtsfälle melden und bei Verdacht auf Enterovirus-Infektionen gezielt diagnostisch tätig werden. Nur so können Infizierte frühzeitig erkannt und weitere Ausbreitungen verhindert werden.
Polioimpfungen in deutschland: impfquoten bleiben hinter erwartungen zurück
Das Risiko einer Erkrankung an Kinderlähmung besteht vor allem für nicht oder unvollständig geimpfte Personen. Das RKI weist darauf hin, dass jeder Mensch in Deutschland gegen Polio geimpft sein sollte. Die Grundimmunisierung soll bis zum Alter von zwölf Monaten abgeschlossen sein; dennoch sind nur etwa 21 Prozent der Einjährigen vollständig immunisiert. Im Alter von zwei Jahren besitzen lediglich rund 77 Prozent den vollständigen Impfschutz gegen Polio.
Diese Impfquoten liegen deutlich unter den empfohlenen Werten zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gemeinschaftsschutzes . Die Ständige Impfkommission empfiehlt drei Impfungen mit einem inaktivierten Polio-Impfstoff als Grundimmunisierung bei Säuglingen sowie eine Auffrischungsimpfung zwischen neun und sechzehn Jahren.
Der verwendete Impfstoff ist seit 1998 ausschließlich ein inaktivierter Polio-Impfstoff , der zwar einen guten Schutz vor Erkrankung bietet, aber nicht vollständig verhindert, dass sich Geimpfte infizieren oder das Virus weitergeben können. Dies ermöglicht ein unbemerktes Zirkulieren des Erregers insbesondere bei niedrigen Impfquoten.
Krankheitsbild poliomyelitis: symptome und folgen einer infektion
Poliomyelitis gilt als hochansteckende Krankheit mit potenziell schweren Folgen bei fehlendem Impfschutz. Eine spezifische Therapie existiert bislang nicht; die Behandlung beschränkt sich auf symptomatische Maßnahmen zur Linderung der Beschwerden.
Ungefähr ein Viertel aller Ungeimpften entwickelt grippeähnliche Symptome wie Fieber oder Muskelschmerzen nach einer Infektion mit dem Poliovirus. Bei etwa einem bis fünf Prozent kommt es zu einer Meningitis – einer Entzündung der Hirnhäute –, während seltener auch das Rückenmark betroffen ist. In diesen Fällen entstehen schlaffe Lähmungen verschiedener Muskelgruppen; besonders gefährlich sind Lähmungen der Atemmuskulatur, da sie tödlich enden können.
Der Name „Kinderlähmung“ resultiert aus früherer Verbreitung des Erregers hauptsächlich unter Kindern vor Einführung flächendeckender Schutzimpfungen Mitte des 20 Jahrhunderts in Deutschland – damals gab es jährlich Tausende Erkrankte sowie Hunderte Todesfälle durch Polio allein hierzulande.
Ursprung der virennachweise: schluckimpfstoffe als quelle vakzineabgeleiteter viren
Die aktuell nachgewiesenen Virusstämme gehören laut RKI zum sogenannten cVDPV2-Cluster . Diese stammen ursprünglich aus Schluckimpfstoffen gegen Kinderlähmung mit abgeschwächten lebenden Virenstämmen zurück – sogenannte orale Polio-Impfstoffe . Solche Präparate kommen seit 1998 nicht mehr in Deutschland zum Einsatz; weltweit sind sie jedoch insbesondere noch in Afrika und Asien verbreitet wegen ihrer Vorteile wie leichter Anwendung sowie günstiger Kostenstruktur.
Weltweit gilt Wildtyp-Poliovirus dank intensiver Impfkampagnen nahezu als ausgerottet; aktive Infektionen treten nur noch vereinzelt beispielsweise in Afghanistan oder Pakistan auf. Vakzineabgeleitete Virusstämme hingegen können sich verändern und erneut Krankheiten verursachen – dies stellt weiterhin ein Problem dar wie jüngste Ausbrüche zeigen etwa New York 2022 mit irreversiblen Lähmungsfolgen eines jungen Mannes belegen.
In Ländern mit niedriger Impfrate kann diese Form daher gefährlich sein; deshalb setzen viele Staaten trotz Risiken weiter oral verabreichte Schluckimpfstoffe ein um möglichst breite Immunität zu erreichen beziehungsweise auszubauen.
Übertragungswege von polio: fäkal-orale infektion trifft tröpfcheninfektion
Die Hauptübertragungsroute von Polioviren erfolgt fäkal-oral durch Kontaktinfektionen via kontaminierter Hände oder Oberflächen beziehungsweise verunreinigtem Wasser beziehungsweise Lebensmitteln. In Ländern mit hohen Hygienestandards wie Deutschland spielen vermutlich auch Tröpfcheninfektionen über die Atemwege eine wichtige Rolle beim Krankheitsgeschehen.
Lars Schaade erläutert dazu: „Die Viren breiten sich zuerst im Rachenraum aus, wo sie dann durch Tröpfchen übertragen werden können.“ Dies bedeutet, dass neben direktem Kontakt auch Aerosole beim Sprechen, Husten oder Niesen Ansteckung ermöglichen.
Diese Erkenntnisse beeinflussen Empfehlungen zur Prävention erheblich. Neben konsequenter Händehygiene gewinnt somit auch Abstandhalten Bedeutung, um potenzielle Übertragungswege einzuschränken.
Pandemiebedingte folgen für impfraten erhöhen risiko weiterer polioausschreitungen
Während globaler Covid-19-Pandemie kam es vielerorts zu Unterbrechungen routinemäßiger Schutzimpfprogramme einschließlich solcher gegen Kinderlähmung. Experten warnen davor, dass dadurch bestehende Immunitätslücken größer geworden seien.
Afrikanische Länder gelten aufgrund vergleichsweise niedriger Impfquoten besonders anfällig gegenüber cVDPV-Ausbrüchen. Das RKI verweist darauf, dass vakzineabgeleitete Poliovirus-Stämme lange Zeit unentdeckt zirkulieren könnten; erst wenn akute Fälle auftreten, wird oft erst bekannt, wie weitreichend Infektionsketten bereits bestehen.
Bei symptomatischen Erkrankten rechnet man statistisch jeweils etwa zweihundert weitere asymptomatische Fälle hinzu. Dieses Verhältnis erschwert frühzeitige Eindämmung erheblich.
dpa