Das Gespräch zwischen der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und fünf Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan und dem Iran bietet einen seltenen Einblick in persönliche Fluchterfahrungen sowie die politische Debatte um Migration in Deutschland. Dabei reflektiert Merkel ihre damalige Flüchtlingspolitik und äußert Kritik an der aktuellen Praxis der Grenzzurückweisungen.
Persönliches treffen im syrischen restaurant berlin schöneberg
Im syrischen Restaurant Malakeh in Berlin-Schöneberg herrscht gespannte Erwartung. Der große Tisch ist mit Nüssen, Süßigkeiten und frisch aufgebrühtem arabischem Kaffee gedeckt. Die Besitzerin Malakeh Jazmati arrangiert letzte Details, während die Gäste eintreffen. Unter ihnen ist der Deutsch-Syrer Akram Al Homsy, der sichtlich aufgeregt ist:
„Du musst dir das vorstellen, es gibt einen Menschen, der dein Leben irgendwie komplett verändert hat und nach zehn Jahren bekommst du die Chance, diesen Menschen zu treffen.“
Das Treffen findet an einem Donnerstagnachmittag statt. Neben Akram sind auch das Ehepaar Mahsa Narimani und Sadegh Ranjbar, sowie die Geflüchteten Narges Tavakolli und Joud Nahhas dabei. Alle kamen während der Fluchtbewegung 2015 nach Deutschland oder haben später hier Zuflucht gefunden. Sie leben heute verteilt in Nordrhein-Westfalen, Berlin oder Niedersachsen; studieren oder arbeiten beziehungsweise absolvieren eine Ausbildung.
Für alle Beteiligten symbolisiert Angela Merkel ein Leben in Sicherheit – für sie selbst war dieses Gespräch eine Premiere: Zum ersten Mal spricht sie öffentlich direkt mit Menschen über ihre Fluchterfahrungen von damals bis heute.
Die Atmosphäre ist ungezwungen; Merkel verzichtet auf protokollarische Distanz, hört aufmerksam zu und stellt viele Nachfragen. Die Moderation übernehmen zwei WDR-Journalisten mit eigener Fluchterfahrung: Bamdad Esmaili und Borhan Akid.
Rückblick auf den sommmer 2015 – „wir schaffen das“
Am 31. August 2015 prägte Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das“ bei einer Bundespressekonferenz angesichts steigender Flüchtlingszahlen aus Syrien sowie anderen Krisenregionen Europas südlicher Grenzen. Hunderttausende flohen vor Kriegshandlungen über das Mittelmeer Richtung Deutschland.
Die Bundesregierung entschied sich damals zur Aufnahme dieser Schutzsuchenden – eine Entscheidung von historischer Tragweite mit weitreichenden Folgen für Politik und Gesellschaft bis heute.
In den Folgejahren kamen mehr als eine Million Menschen ins Land; Migration wurde zunehmend zum politischen Streitpunkt innerhalb Deutschlands wie auch europaweit.
Aktuelle Umfragen zeigen weiterhin Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger bezüglich Zuwanderung sowie deren Integrationserfolg beziehungsweise Herausforderungen im Alltag.
Erfahrungen geflüchteter zwischen integrationserfolgen & schwierigkeiten
Die Gesprächspartner berichten offen von ihren individuellen Wegen nach Deutschland – vom gefährlichen Aufbruch bis hin zu beruflichen Perspektiven hierzulande:
Akram Al Homsy floh als Minderjähriger vor dem syrischen Bürgerkrieg zunächst in den Libanon; später gelang ihm dank eines UN-Resettlement-Programms gemeinsam mit seiner Familie die Ausreise nach Deutschland.
Trotz erfolgreicher Integration litt er lange unter posttraumatischen Belastungsstörungen . Erst spät erhielt er psychologische Hilfe:
„Ich merkte, etwas stimmt nicht mit mir, ich stottere immer noch.“
Er kritisiert fehlende frühzeitige Unterstützung für psychisch belastete Geflüchtete unmittelbar nach Ankunft hierzulande – ein Thema, dem auch andere zustimmen.
Weitere Berichte thematisieren beengte Unterkünfte während des Asylverfahrens ebenso wie Schwierigkeiten beim Berufseinstieg oder Ausbildungsbeginn aufgrund sprachlicher Barrieren oder bürokratischer Hürden.
Dennoch betonen viele Teilnehmer ihren Wunsch zur aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie ihr Gefühl angekommen zu sein:
„Ich kann Frau Merkel Fragen stellen“, sagt Akram Al Homsy stellvertretend für alle Anwesenden im Dialogprozess zwischen Politikern einerseits sowie Migranten andererseits.
Merkels stellungnahmen zur aktuellen migrationspolitik
Im Verlauf des Gespräches nimmt Angela Merkel Stellung zur gegenwärtigen Flüchtlings- beziehungsweise Migrationspolitik Deutschlands:
Sie distanziert sich deutlich von der Praxis ihrer Nachfolgeregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz bezüglich Zurückweisungen an deutschen Grenzen ohne vorheriges Asylverfahren:
„Wenn jemand an der deutschen Grenze sagt Asyl, dann muss er erstmal ein Verfahren bekommen.“
Diese Haltung steht im Gegensatz zum Beschluss des Innenministers Thomas Dobrindt , wonach Asylsuchende abgewiesen werden können außer vulnerable Gruppen wie unbegleitete Minderjährige oder Kranke – was kürzlich durch ein Berliner Gericht als rechtswidrig eingestuft wurde.
Merkel betont jedoch zugleich die Notwendigkeit einer europäischen Gesamtstrategie gegen illegale Migration:
„Wir müssen das Ganze europäisch denken.“
Zudem unterstützt sie Abschiebungen abgelehnter Antragsteller etwa aus Afghanistan sofern möglich; dabei müsse aber stets geprüft werden können „eine Lösung zu finden“.
Rückblick & selbstkritik zum umgang mit flüchtlingen vor zehn jahren
Mit Blick auf die damalige Situation erklärt Angela Merkel offen ihre Einschätzung:
„Das war für uns auch eine unerwartete Situation… Wir haben lange nicht hingeschaut… Wie sieht es in den Flüchtlingslagern im Libanon aus? Wie sieht es in Jordanien aus? Wir haben dem Welternährungsprogramm nicht genug Geld gegeben.“
Sie beschreibt damit Versäumnisse bei internationaler Unterstützung jener Länder nahe Syrien samt wachsender Hoffnungslosigkeit dortiger Binnenflüchtlinge als Ursache großer Migrationsbewegungen Richtung Europa.
Der Abend endet emotional berührend für alle Beteiligten: Teilnehmerin Joud Nahhas beschreibt ihn als „wirklich schöne Atmosphäre“. Akram Al Homsy zeigt sich erleichtert trotz anfänglicher Nervosität:
„Diesen Tag werde ich nie vergessen.“
Solche Begegnungen verdeutlichen sowohl individuelle Schicksale hinter politischen Entscheidungen als auch komplexe Herausforderungen bei Integration wie gesellschaftlichem Zusammenhalt zehn Jahre nach Beginn jener historischen Fluchtbewegung.