Die Ukraine und der Europarat haben ein Sondertribunal zur Verfolgung russischer Kriegsverbrechen eingerichtet. Dieses Tribunal ergänzt bestehende Gerichtsverfahren und schließt insbesondere eine Lücke bei der Ahndung von Verbrechen der Aggression.
Zuständigkeiten bei kriegsverbrecherprozessen in der ukraine
Kriegsverbrechen können vor verschiedenen Gerichten verfolgt werden. In erster Linie sind die nationalen Strafgerichte in der Ukraine zuständig, um Delikte im eigenen Land zu ahnden. Daneben gibt es den Internationalen Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag, dessen Aufgabe es ist, schwerwiegende internationale Verbrechen zu verfolgen, wenn nationale Justizsysteme nicht tätig werden oder nicht können. Zudem besteht die Möglichkeit, dass nationale Gerichte anderer Staaten Verfahren führen – etwa deutsche Gerichte im Rahmen des Universalitätsprinzips.
Seit 2025 kommt eine weitere Instanz hinzu: das Ukraine-Sondertribunal in Den Haag. Dieses wurde speziell für die Verfolgung bestimmter Kriegsdelikte gegründet und soll ergänzend zum IStGH agieren. Die Zuständigkeit des IStGH ist an bestimmte Bedingungen geknüpft; so müssen betroffene Staaten das Gericht anerkennen oder vom UN-Sicherheitsrat autorisiert sein – was im Fall Russlands aufgrund seines Vetorechts blockiert wird.
Der IStGH kann grundsätzlich vier Kategorien von Straftaten verfolgen: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord sowie Verbrechen der Aggression. Für jede dieser Kategorien gelten spezifische rechtliche Voraussetzungen hinsichtlich Beweisführung und Täterzuordnung. Besonders relevant ist dabei die Nachvollziehbarkeit von Befehlsketten innerhalb militärischer oder politischer Führungsebenen.
Besondere rolle des sondertribunals bei aggression
Das Sondertribunal wurde ins Leben gerufen, um eine bestehende rechtliche Lücke zu schließen: Die Verfolgung sogenannter „Verbrechen der Aggression“ durch den IStGH setzt voraus, dass sowohl Angreifer- als auch Opferstaat das Statut anerkennen – was Russland verweigert hat. Ohne diese Anerkennung kann Russland nicht wegen Angriffskriegs vor dem IStGH belangt werden.
Eine alternative Möglichkeit wäre eine Resolution des UN-Sicherheitsrats gewesen; doch Russlands Vetorecht verhindert dies bislang effektiv. Das neue Sondertribunal basiert auf einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen Ukraine und dem Europarat, unterzeichnet am 27.06.2025 durch Präsident Wolodymyr Selenskyj und Generalsekretär Alain Berset in Straßburg.
Der Europarat ist keine EU-Organisation, sondern ein eigenständiges Gremium mit 46 Mitgliedsstaaten aus Europa; er widmet sich dem Schutz von Demokratie und Menschenrechten auf dem Kontinent. Russland war bis März 2022 Mitglied dieses Rates, wurde jedoch nach Beginn des Angriffskriegs ausgeschlossen.
Das Tribunal konzentriert sich ausschließlich auf „Verbrechen der Aggression“. Für andere Delikte bleiben weiterhin nationale Gerichte sowie der Internationale Strafgerichtshof zuständig.
Organisation und arbeitsweise des sondertribunals
Nach Unterzeichnung des Abkommens können sich interessierte Staaten für eine Mitarbeit am Sondertribunal melden – neben europäischen Ländern auch außereuropäische wie Australien, Japan oder Kanada haben bereits ihre Unterstützung zugesagt.
Geplant ist ein Sitz in Den Haag mit einer Besetzung aus 15 internationalen Richterinnen und Richtern sowie entsprechender Verwaltungseinheit ähnlich dem Aufbau beim IStGH. Das Verfahren soll ausschließlich Fälle behandeln, welche die Führungsebene betreffen – also Personen mit Entscheidungsbefugnis über militärische Aktionen gegen die Ukraine.
Experten wie Kai Ambos von der Universität Göttingen weisen darauf hin, dass es mindestens bis ins Jahr 2026 dauern wird, bis das Tribunal voll arbeitsfähig sein wird; weitere Jahre könnten für Ermittlungen und Urteile folgen müssen angesichts komplexer Beweislagen sowie politischer Herausforderungen vor Ort.
Ein wesentlicher Unterschied zum Internationalen Strafgerichtshof betrifft Immunitätsregelungen: Staatsoberhäupter wie Präsident Wladimir Putin, Ministerpräsident Michail Mischustin oder Außenminister Sergej Lawrow genießen während ihrer Amtszeit Immunität gegenüber strafrechtlicher Verfolgung durch das Sondertribunal – Haftbefehle sind erst nach Amtsende möglich.
Dies stellt einen Kompromiss dar zugunsten einiger beteiligter Länder zur Zustimmung gegenüber diesem neuen Gerichtsgremium; gleichzeitig erlaubt es aber Ermittlungen auch während laufender Amtszeiten unter Aussetzung eines Prozesses bis zum Ausscheiden aus dem Amt.
Praktische herausforderungen bei strafverfahren gegen russische führungskräfte
Die größte Hürde bleibt aktuell die tatsächliche Festnahme mutmaßlicher Täter innerhalb Russlands selbst beziehungsweise deren Auslieferung an internationale Gerichtshöfe wie den IStGH oder das neue Sondertribunal – denn beide verfügen über keine eigene Exekutiveinheit zur Durchsetzung internationaler Haftbefehle vor Ort im Land eines Beschuldigten ohne Kooperation staatlicher Behörden.
Russland verweigert bisher jegliche Zusammenarbeit mit diesen Institutionen; daher erscheint eine kurzfristige Überstellung festgenommener Personen unrealistisch.
Beschuldigte müssen folglich sorgfältig abwägen, welche Länder sie bereisen wollen – da dort mögliche Festnahmen erfolgen könnten basierend auf internationalen Haftbefehlen.
Langwierige Prozesse sind daher wahrscheinlich unvermeidbar – dennoch betonen Ermittler immer wieder ihren langen Atem angesichts historischer Präzedenzfälle wie etwa Slobodan Milosevic’s Prozessierung trotz anfänglicher Skepsis bezüglich seiner Anklagefähigkeit.
Das neu geschaffene Sondertribunal stellt somit einen weiteren Baustein dar im komplexen Geflecht internationaler Rechtsdurchsetzung gegen schwere Menschenrechtsverletzungen infolge bewaffneter Konflikte zwischen Staaten.