Die Debatte um eine zunehmende Streikbereitschaft in Deutschland hat in den letzten Jahren an Intensität gewonnen. Vor dem Hintergrund von Inflation, Pandemie und geopolitischen Krisen rückten Arbeitskämpfe verstärkt ins öffentliche Bewusstsein.
Arbeitskämpfe in deutschland 2023: umfang und beteiligte branchen
Im Jahr 2023 kam es in Deutschland zu einer Vielzahl von Streiks, die verschiedene Branchen betrafen. Paketbotinnen, Bankangestellte, Drucker, Ärztinnen und Ärzte sowie Pilotinnen, Stahlarbeiter und Erzieher legten zeitweise ihre Arbeit nieder. Besonders auffällig waren die wiederholten Streikwellen im Bahnverkehr unter der Führung des damals noch aktiven Lokführers Claus Weselsky, der mit seinen Aktionen bundesweit für Aufsehen sorgte. Diese Arbeitsniederlegungen spiegeln eine erhöhte Konfliktbereitschaft wider, die vor allem durch steigende Lebenshaltungskosten infolge der Inflation befeuert wurde.
Trotz dieser Häufung von Arbeitskämpfen bleibt das Gesamtvolumen im historischen Vergleich moderat. Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte hierzu den „Europäischen Tarifbericht“, der für das Jahr 2023 rund 1,5 Millionen ausgefallene Arbeitstage aufgrund von Streiks dokumentiert – etwa doppelt so viele wie im Vorjahr. Auch das Jahr 2024 wurde als „überdurchschnittlich konfliktintensiv“ eingeschätzt, wobei abschließende Zahlen noch ausstehen.
Diese Entwicklung zeigt zwar einen Anstieg des Arbeitskampfvolumens gegenüber den letzten Jahren; dennoch ist sie nicht mit früheren Jahrzehnten vergleichbar. In den 1970er- und 1980er-Jahren war die Bereitschaft zu streiken deutlich höher – ein Trend, der sich auch im Zehnjahrestrend widerspiegelt.
Streikvolumen im internationalen vergleich
Langfristig betrachtet liegt das jährliche Streikvolumen in Deutschland bei etwa 21 Tagen pro 1 000 Arbeitnehmern – was bedeutet, dass jeder Beschäftigte durchschnittlich nur rund zehn Minuten pro Jahr streikt. Diese Dauer entspricht ungefähr einer Kaffeepause während eines Arbeitstages und verdeutlicht damit die relative Zurückhaltung deutscher Arbeitnehmer bei Arbeitskämpfen.
Im europäischen Vergleich fällt auf, dass andere Länder deutlich höhere Werte aufweisen: So verzeichnet Belgien etwa 107 Tage pro tausend Beschäftigten mit Ausfall durch Streiks; Frankreich kommt auf rund 102 Tage und Finnland auf circa 93 Tage innerhalb desselben Zeitraums. Diese Zahlen zeigen eine größere Neigung zu kollektiven Arbeitskampfmaßnahmen außerhalb Deutschlands.
Für das laufende Jahr deuten Prognosen zudem darauf hin, dass sich diese Dynamik abschwächen könnte: Die Tarifrunden des Jahres 2025 verliefen bislang eher ruhig; gleichzeitig wird ein Rückgang der Inflationsrate erwartet , nachdem sie im Jahr 2023 bei knapp sechs Prozent lag . Dies spricht dafür, dass sich auch die Konfliktintensität am deutschen Arbeitsmarkt voraussichtlich normalisieren wird.
Lohnentwicklung nach arbeitskämpfen
Die häufigeren Tarifauseinandersetzungen haben für viele Beschäftigte positive Effekte gezeigt: Seit dem Beginn des Inflationsanstiegs Ende 2021 stiegen die realen Tariflöhne in Deutschland um durchschnittlich rund 2,8 %. Dieser Zuwachs liegt über dem Durchschnittswert aller zwanzig Eurozonenländer aus derselben Studie; jedoch fällt er hinter Länder wie Österreich , Portugal oder Slowakei zurück.
Trotz dieser Lohnsteigerungen konnten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Kaufkraftverluste nicht vollständig ausgleichen. Seit dem Beginn des Jahres 2020 haben tarifgebundene Beschäftigte hierzulande real etwa 4,7 % an Kaufkraft eingebüßt – ein Ergebnis davon ist laut Studie insbesondere darauf zurückzuführen ist, dass Lohnerhöhungen nicht alle Preissteigerungen kompensieren konnten.
Ein zusätzlicher Faktor sind jene Erwerbstätigen ohne Tarifbindung; laut Statistischem Bundesamt sind dies circa 51 % aller Beschäftigten in Deutschland. Für diese Gruppe dürften Kaufkraftverluste tendenziell höher liegen als für tarifgebundene Kolleginnen oder Kollegen aufgrund fehlender automatischer Anpassungsmechanismen an steigende Preise.
International betrachtet weist Portugal als einziges untersuchtes Land einen vollständigen Ausgleich dieser Verluste auf: Dort stiegen tarifliche Einkommen seit Anfang 2020 real um 6,7 %. Im Gegensatz dazu verzeichnen Italien sowie Tschechien deutliche reale Einbußen bei den Tariflöhnen seit diesem Zeitpunkt – was unterschiedliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie politische Strategien zur Inflationsbekämpfung widerspiegelt.